Sodele Ihr Lieben,
bevor ich das jetzt beantworte, gehen wir mal im Tiefflug durch die Statistik, sonst wird das hier nie was.
Ich beziehe mich im Folgenden ausschließlich auf die oben bereits genannte Studie von de Beaurepaire.
http://www.frontiersin.org/Journal/Full ... rol&x=y#h2Dort wird unter "Methods" angegeben:
Studie de Beaurepaire hat geschrieben:Analysis of relationships between continuous variables was based on Spearman’s r correlation with asymptotic confidence intervals based on Fisher’s Z transform.
Das soll erstmal reichen, die danach folgenden Angaben interessieren uns vorerst nicht.
Wenn man eine solche Studie durchführt, erhält man einen ganzen Sack voller Daten. Uns interessiert im Moment nur die Korrelation "Alkoholkonsum" und "benötigte Baclofendosis". Untersucht man das, erhebt man von jedem Patienten diese beiden Merkmale und trägt die resultierenden Zahlenpaare in ein Koordinatensystem ein. Im seltensten Falle werden die Ergebnisse schön ordentlich auf einer Linie liegen. In der Regel erhält man eine Punktewolke. Diese kann durch verschiedene Modelle daraufhin untersucht werden, ob es irgendeine zugrundeliegende Formel gibt, mit der man alle Punkte in dieser Wolke möglichst genau beschreiben kann. Findet man eine solche Formel, wird sie auf Genauigkeit geprüft, also letztlich darauf,
wie genau denn nun die Punkte, die sich da im Koordinatensystem tummeln, von der gefundenen Formel beschrieben werden.
Die Wahl von
Spearmans "r" zur Prüfung dieser Genauigkeit ist bei dieser Studie eine gute Wahl. Dieses "r" ist gegenüber dem bekannteren Korrelationskoeffizienten "r"
nach Bravais-Pearson vorteilhaft: erstens ist Spearman weit weniger anfällig gegenüber Ausreißern (also Einzeldaten, die erheblich nach oben oder unten von einer gedachten Linie abweichen). Zudem ist er gut für kleinere Datensätze anwendbar, und, ganz wichtig, er berücksichtigt nicht nur lineare (also y=ax+b), sondern alle stetigen (also zb. auch y=ax^2+b) Funktionen. Alles bestens.
Allerdings finden sich in dem gesamten Paper zwar immer wieder Hinweise darauf,
dass es diese Korrelation Trinkmenge <-> Bacmenge gibt, aber keinerlei Verweise darauf,
wie sie aussieht. Oder ich übersehe es konsequent.
Das Spearman r=0,315 sagt uns, dass eine positive (je mehr, desto mehr) Korrelation besteht, die aber nicht sonderlich präzise dargestellt ist (-1≤r≤1, da ist 0,315 einfach nicht wahnsinnig prickelnd. Nicht schlecht, aber kein Grund, das Feuerwerk anzuzünden).
Studie de Beaurepaire hat geschrieben:there was a significant relationship between the amount of alcohol (in grams) consumed before treatment and the maximal dose of baclofen needed by patients [r = 0.315 (0.127;0.482), p = 0.001]. This relationship was significant in both men and women.(...)No element (BMI, sex, social, family, and professional features), with the exception of the amount of alcohol consumed before treatment, had a predictive value regarding the dose of baclofen needed,
aber
wie diese gefundene Korrelation nun tatsächlich aussieht?
Nada.
Bevor ich jezt auf meine Überlegung und Dons Fragen dazu eingehe, muss ich Euch nochmal ins Wunderland der Mathematik entführen und kurz auf einen Begriff eingehen, den wahrscheinlich viele schon gehört haben und wahrscheinlich wenige was mit anzufangen wissen: die
Normalverteilung oder "Gaußsche Glockenkurve".
Die Normalverteilung (bzw. ihre Sonderform, die Standardnormalverteilung) ist bei vielen empirisch erfassten Daten hervorragend geeignet, die tatsächlich gemessenen Werte in eine gut rechenbare, allgemeine Form zu überführen.
Viele psychologische Konstrukte gehen von einer Normalverteilung aus, am bekanntesten wohl der Intelligenzquotient (IQ). Mal ganz platt formuliert, sieht die Normalverteilung hier so aus: ganz wenige sind wirklich strunzdumm, viele sind ein bisschen unterbelichtet, ganzganzviele sind irgendwie ganz normal intelligent, viele sind echt schlau, ganz wenige sind wirklich genial.
So, wer nun bis hier gelesen hat, bekommt zur Belohnung gleich sein erstes AHA!-Erlebnis.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass innerhalb einer Patientengruppe mit einem bestimmten Alkoholkonsum die benötigte Baclofendosis ungefähr normalverteilt ausfällt. Wir schnappen uns beispielhaft die Gruppe so um die 140 Gramm Reinalkohol/Tag, also roundabout zwei Flaschen Wein am Tach. (
Achtung: die folgenden Zahlen sind reine Modellrechnungen. Mir liegen keine tatsächlichen Daten vor!)
in dieser Gruppe benötigte ein Patient 25 mg/d bac, zwei benötigten 50mg/d, drei 80 mg, vier 90 mg, fünf 100mg, vier 110 mg, drei 120 mg, zwei 150 mg und einer satte 200 mg Baclofen pro Tag.
Damit haben wir die - immer wieder als Kritikpunkt angemahnte - riesige Bandbreite von 25 - 200 mg bac/d für die Lösung des gleichen Problems. Da kann man nichts draus berechnen, oder?
Willos 0,7-Faustformel gibt für diese Patientengruppe 140x0,7=98 mg/bac/d an, das haben gerade einmal 5 der 25 Patienten benötigt, 20%. Die Rechnung ist also offenkundig Firlefanz.
Oder?
Der aufmerksame Leser hat's gemerkt: diese Medikamentendosis ist etwa normalverteilt. Und jetzt wird's spannend: grenzt man die normalverteilte Medikamentendosis in einen
Bereich von 80 - 120 mg bac/d, also Willos 100mg +/- 20%, ein, hat man satte 19 von 25 Patienten bzw. 76% der Patienten erfasst.
Und zur Sicherheit nochmal der Hinweis: dies war eine reine Modellrechnung, die nicht auf irgendwelchen tatsächlichen Zahlen basiert!Das wäre - wenn es denn wahr wäre - Teilantwort eins auf die Frage "wozu soll das denn bitte gut sein?": hätte mir vor drei Jahren jemand sagen können: lieber Herr Tse, als Ihr behandelnder Arzt weise ich Sie darauf hin, dass drei Viertel aller Patienten mit Ihren Trinkgewohnheiten zwischen 150 und 200 mg Baclofen pro Tag benötigen, ich hätte ganz sicher nicht drei Jahre lang mit 25mg rumgekrümelt und jede Nebenwirkung unter der Lupe betrachtet.
Nur, um das alles sicher feststellen zu können, benötigt man schlicht größere Datensätze. Da wären n>25 für jede Patientengruppe schon untere Grenze.
Es gibt in Dr. de Beaurepaires Werk noch ein paar Zahlen, die ich im Weiteren noch mal näher betrachten werde, möglicherweise geben die noch ein bisschen was genaueres über die tatsächliche Verteilung her, aber das mache ich an einem anderen Tag.
Jetzt geht es erstmal nur ums Verständnis: was macht Willo da?
Was ich jetzt gemacht habe ist, in Ermangelung von mehr als zwei Zahlenpaaren, einen Strich quer über dieses Koordinatensystem zu ziehen, der durch diese beiden bekannten Punkte geht (durchschnittliche Trinkmenge/durchschnittliche Bacmenge, jeweils einen für Männer und einen für Frauen), und
davon auszugehen dass ich damit die Punktewolke
so gut wie es mir ohne weitere Informationen möglich ist hinreichend gut angenähert habe.
Das alles habe ich übrigens seit 13.1. in meinem Trinktagebuch als Faustformel
für mich 'drin. Hier eingestellt habe ich es erst, als mir die verblüffende Ähnlichkeit zwischen meiner Zahl und @jivaros vermutlich aus der ärztlichen Praxis hergeleitetem Erfahrungswert auffiel. Ich habe diese Faustformel trotzdem mit meinem Namen versehen und nicht mit dem von Dr. de Beaurepaire. Nein, nicht aus einem übersteigerten Selbstwertgefühl heraus, sondern weil die von mir vorgenommenen mathematischen Operationen an der Grenze zum Zahlenspiel sind und Mangels Daten die resultierende Faustformel nicht genauer sein kann, als die oben schon zitierte Axt, die der Zimmermann schleudert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. de Beaurepaire überglücklich wäre, wenn sein Name allzusehr mit diesem Axtwurf verwoben wäre.
Und sollte ich damit zufällig direkt ins Schwarze getroffen haben: ich melde kein Patent darauf an.
Teil zwei auf die Frage "und was soll das alles" ist nun, mit diesem Vorwissen, schnell erklärt. Ich sehe keinen Grund, weshalb man zwischen vorherigem Konsum und Beikonsum unterscheiden sollte. Das Gehirn sucht nach seinem Glücksstoff, findet ihn mit einer bestimmten Menge Alk am GABA-A und ist's zufrieden. Um das wegzukriegen, braucht es eine andere, aber ebenfalls zumindest durchschnittlich bestimmbare Menge Bac am GABA-B, fertig ist das Desinteresse am Alkohol. Trinke ich nun während der Behandlung was, greift das Gehirn nicht auf GABA-B zu sondern begnügt sich mit dem lecker Weinchen am GABA-A (danke @Papfl für dieses wieder mal wunderbare Bild von Dir!).
Das heißt für mich: ich benötige eine bestimmte Menge Bac als Erhaltungsdosis für mein "Desinteresse". Unterschreite ich diese therapeutische Grenze, wächst - logischweise - mein Interesse wieder. Für die Kollegen von der "auch weiterhin ab und an ein Gläschen" - Fraktion heißt das doch einfach nur: wenn meine therapeutische Grenze bei 175 mg/d liegt und ich jederzeit gefahrlos ein Viertele am Tag trinken können möchte, sollte ich (250ml 12%vol. x 0,8 spez.Gewicht alc x 0,7 Willo = 16,8 mg bac/d) etwa 20mg Bac/d
mehr, also 195 mg/d einwerfen, um auf der sicheren Seite zu bleiben.
Und Nutzen 2b dieser Überlegungen: wenn ich auf meiner Reise noch nicht am Ziel bin, ich lebe jetzt mit 100 mg/d und brauche aber immernoch meine zwei, drei Bierchen am Abend obwohl ich die eigentlich nicht mehr will, sollte ich (1500 mal usw...) mit gut 40 mg Bac/d
mehr ans Ziel gelangen können.
Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin, aber ich sehe eine Menge Nutzen in einer solchen Formel. Meiner Ansicht nach ist jeder mögliche Dosierungsansatz auf Dauer erstrebenswerter als das derzeitige "schluckst Du, guckst Du" - System.
Nur: bevor jetzt doch jemand das Feuerwerk 'rausholt: meine Faustformel ist dazu noch viel zu ungenau und von viiiiiiiel zu wenig Daten untermauert.
Und bevor ich dazu komme, eine entsprechende Sekundäranalyse aller bisher vorliegenden Daten durchzuführen, gehen noch mindestens drei Jahre ins Land. Eher fünf. Bis dahin sind allein in Deutschland nochmal rud 350.000 Menschen am Alkoholismus verreckt.
Aber vielleicht liest da draußen ja irgendjemand diese Hypothesenknospen und kann sie schneller zum Blühen bringen als ich. Es würde mich uneeingeschränkt freuen. Ich hab' noch Ideen genug, ich bin auf diese nicht angewiesen. Und falls die Nullhypothese wahr wird: es war sicher einen Versuch wert.
Da bin ich nochmal kurz in der Statistik. Um diesen Satz:
wird gelegentlich ein ziemliches Gewese gemacht.
Eine ANOVA ist eine Varianzanalyse. Der errechnete p-Wert gibt, grob vereinfacht, an, wie wahrscheinlich es ist, dass die gefundenen Daten genau so, wie sie sind, unter Annahme der Nullhypothese (also platt gesagt: des Gegenteils der Hypothese) auch gefunden worden wären. Mehr steht da nicht.
LG
Willo