Tach zusammen!
Zunächst mal ganz herzlichen Dank Euch beiden, @DonQ und @Papfl, dass Ihr das Forum nicht nur prompt mit diesen wichtigen Informationen versorgt, sondern Euch auch noch die Nächte damit um die Ohren schlagt, sie zu übersetzen! Ich weiß, was für eine Arbeit es ist, einen wissenschaftlichen Text verantwortungsvoll zu übersetzen, das ist mit zehn Minuten "google-Übersetzer" nicht getan. Danke dafür!
DonQuixote hat geschrieben:Einschätzung der ausgesprochen guten Erfolgsquote (Wirksamkeitsnachweis). Kann es dabei verschiedene Blickwinkel geben?
Ich bin jetzt noch nicht dazu gekommen, das Paper bis ins Detail zu lesen, aber dass das ein Milestone ist, ist schon nach dem Überfliegen klar. Das ist jetzt immerhin empirische "deutsche" Wissenschaft, noch dazu von einer der renommiertesten Einrichtungen überhaupt im Bereich medizinischer Forschung.
Die Ergebnisse sind meiner Ansicht nach sehr gut, selbst, wenn man "nur" die (knapp) 50% dauerhaft Abstinenten als Erfolgskriterium nimmt. Vor allem, und das ist eigentlich noch wichtiger, fällt in den deutschen Köpfen damit vielleicht endlich mal diese unsägliche 75 mg/d Grenze, die wahrscheinlich für ganz viele Patienten den Erfolg verhindert und Baclofen durch die Hintertür auch noch schlecht dastehen lässt. Denn ein therapeutischer Misserfolg, der auf zu niedrige Dosierung zurückzuführen wäre, wenn man es denn täte, bedeutet für den Arzt, dass Baclofen ganz offenbar ja doch nicht "funktioniert". Und für den Behandelten, dass ihm "nicht mal das hilft".
Das ist sowohl für die Baclofenbehandlung im Ganzen als auch für den einzelnen Patienten katastrophal.
Niemand käme auf die Idee, einem Patienten Therapieversagen zu unterstellen, der zur Bekämpfung einer schweren Infektion täglich 6.000 mg eines Antibiotikums benötigt, vom Arzt aber nur 2.000 mg verordnet bekommt und so die Lungenentzündung nicht loswird. Bei Antibiotika ist eine solche Haltung geradezu absurd, bei Baclofen ist sie Tagesgeschäft.
Da setzt diese Studie mit maximal 270 mg/d Baclofen und einem erreichten Durchschnitt von 180 mg/d einfach einen ganz anderen Maßstab, das ist für mich eigentlich ihr wichtigster Outcome.
BACLAD-Paper hat geschrieben:Mean dose of study medication during the high-dose phase was 180 mg/d (SD 86.9) in the baclofen group and 257.1 mg/d (SD 33.6) in the placebo group (U = 114.5, p = 0.001),
Darüber hinaus halte ich auch dies hier für ein ganz wichtiges Ergebnis, da es den Originalweg von Dr. Ameisen stützt und der deutschen Übervorsichtigkeit eine klare Absage erteilt:
Deutsche Übersetzung des BACLAD-Papers hat geschrieben:Hinsichtlich Sicherheit und Toleranz des Medikaments Baclofen bestätigt unsere Studie die bisherigen vorteilhaften Erkenntnisse (Addolorato et al., 2007; Garbutt et al., 2010). In der Baclofen-Gruppe brachen lediglich zwei Patienten die Behandlung wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen (insbes. Müdigkeit) ab. Ansonsten konnten dem Medikament keine relevanten Ereignisse zugeschrieben werden. Übereinstimmend mit den Erkenntnissen einer anderen Untersuchung (Evans and Bisaga, 2009), gab es auch bei (Alkohol)Konsum-Rückfällen und gleichzeitiger Verabreichung von Baclofen keine sonstigen ernsthaften Vorfälle, welche auf das Medikament Baclofen hätten zurück geführt werden können.
Hervorhebung von mir
DonQuixote hat geschrieben:Einschätzung der beiden Hauptzielkriterien: Totale Abstinenz und Abstinenzdauer.
Grundsätzlich finde ich die Festlegung dieser Erfolgskriterien
für eine Studie absolut in Ordnung. Egal, wohin die Grenze für Erfolg/Misserfolg gelegt wird, irgendwo muss sie hin, sonst ist die Studie nicht auswertbar*. "Die meisten Teilnehmer tranken viel weniger" ist als Aussage einer Studie unsinnig, "81% der Teilnehmer erreichten für die 12 Wochen der Hochdosierungsphase die totale Abstinenz" ist ein Ergebnis, mit dem man arbeiten kann.
Inhaltlich sind solche Grenzen natürlich absurd, egal, wo sie liegen. Abstinenz ist null Alkohol. Ein Glas Sekt an Silvester ist ein Rückfall? 23 Gramm Alkohol am Tag sind in Ordnung (WHO), 24 Gramm erfüllen die Kriterien der Abhängigkeit nach ICD10? Das ist offenkundiger Quatsch, aber für die Statistik sind diese Grenzen eben erforderlich. Das ist auch völlig o.k.
Problematisch wird es, wenn später die Anwender diese Grenzen wörtlich nehmen und ihren Anwendungsspielraum vernachlässigen.
Wobei in der Abhängigkeitsbehandlung da teilweise groteske Formen erreicht werden. Wer nach Monaten der Abstinenz so richtig rückfällig wird, bleibt im System. (Das ist ja auch richtig so!) Da greifen die normalen Mechanismen, von der Entgiftung bis zur Therapie. Wer aber seinem Therapeuten sagt, dass er alle drei Wochen mit seinen Freunden beim Fussball "rückfällig" werden wird ("drei Kölsch, ein Grappa") fliegt achtkantig 'raus,
weil er ja gar nicht abstinent werden will.
Dabei ist der letztgenannte Patient
eigentlich der gesündere.
Hier muss man einfach zwischen notwendiger statistischer Anwendung und tatsächlicher individueller Anwendung unterscheiden. Es ist gut und wichtig zu wissen, dass in Deutschland eine Frau durchschnittlich 1,38 Kinder zur Welt bringt. Einer Mutter, die in der individuellen Anwendung vorhat, nach der Geburt des zweiten Kindes ihren beiden Kindern die Beine abzuhacken, um insgesamt auf die statistisch korrekten 1,38 Kinder zu kommen, ist von einer zweiten Schwangerschaft meiner Ansicht nach abzuraten.
Mit diesen Erfolgskriterien ist es wie mit dem alten Werbeslogan für Beton: es kommt drauf an, was man draus macht.
In der modernen Architektur kann er zu Meisterleistungen führen, für die Gestaltung von Arztköpfen erscheint er eher ungeeignet.
LG
Willo
*Das ist inhaltlich nicht ganz korrekt: natürlich ist eine Studie auch ohne Grenzwerte quantitativ auswertbar, indem einfach nur die ermittelten Daten angegeben, aber nicht interpretiert werden. Aber bei einer Studie, die den Erfolg einer Behandlung untersucht, muss eben irgendwie ein Kriterium für "Erfolg" angegeben werden, sonst ist die Auswertung tatsächlich unmöglich.