Heute gibt’s wieder einmal ein reichhaltiges und schmackhaftes Menu aus der exquisiten französischen Baclofen-Küche. Es handelt sich um ein Papier, welches von französischen Ärzten / Therapeuten verfasst wurde, die die Baclofen-Therapie gegen Alkoholismus in Frankreich anwenden. Es fasst die Erfahrungen und Empfehlungen zusammen, die die Autoren bei der Behandlung von über 1500 (!) Patienten gewonnen haben. Es richtet sich in erster Linie an andere Ärzte / Therapeuten, kann aber auch für uns von großem Nutzen oder bei der Überzeugungsarbeit gegenüber Eurem eigenen Arzt / Therapeuten behilflich sein. Die Text-Hervorhebungen entsprechen dem französischen Original, welches hier zu finden ist. Die deutsche PDF-Version gibt es hier ... Ich wünsche viel Erkenntnis bei der Lektüre.
Französische Ärzte hat geschrieben:
Leitfaden für Mediziner zur Anwendung von Baclofen bei der Behandlung von Alkoholproblemen
Autoren: Pascal Gache, Renaud de Beaurepaire, Philippe Jaury, Bernard Joussaume, Annie Rapp und Patrick de la Selle
Version 2
Einleitung: Wie soll dieser Leitfaden verstanden werden?
Dieser Leitfaden bezweckt, Ihnen bei der Baclofen-Behandlung von Alkoholproblemen behilflich zu sein. Zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine standardisierte Vorgehensweise bei der Anwendung dieses Medikamentes gegen Alkoholsucht. Die Empfehlungen für die ursprünglichen Anwendungsgebiete (Neurologie) schlagen eine Erhöhung um 15 mg / Tag alle drei Tage vor. Dabei wird vorausgesetzt, die angemessene Dosis für den Einzelfall zu berücksichtigen. Die nachstehenden Vorschläge beruhen auf den Erfahrungen der Autoren, die sie empirisch und im Laufe der Zeit bei der Behandlung von über 1500 Patienten mit dem Medikament nach dem Prinzip von Olivier Ameisen (1) (2) gewonnen haben. Verschiedentlich werden Sie feststellen, dass es keinen absoluten Konsens gibt und dass die einzelnen Ärzte / Therapeuten eine etwas abweichende Vorgehensweise bei der Behandlung bevorzugen. Diese Frage kann zurzeit nicht endgültig geklärt werden.
Drei relevante Fachartikel, mit denen die Autoren dieses Leifadens ihre Resultate abgeglichen haben, erlauben, sich bei der Anwendung an den dort beschriebenen Resultaten zu orientieren (3) (4) (5). Es existieren auch Fachartikel, welche über Einzelfälle oder kleine Serien berichten (6) (7) (8). Diese Empfehlungen sollen Ihnen bei der Verschreibung von Baclofen helfen, damit Sie wie wir selbst feststellen können, dass diese Therapieform, verglichen mit den anderen, überlegen ist.
1. Ameisens Postulat der Anwendung von Baclofen in hoher Dosierung.
Alkoholismus ist eine neurobiologische Krankheit, die Symptome treten als Krankheitsbild zu Tage. Die Unterdrückung der Symptome (z.B. Kontrollverlust über den Konsum) unterdrückt auch die Krankheit selbst. Baclofen, welches als bisher einziges Molekül bei Ratten eine Reduktion des Trinkens bewiesen hat, wird auch angewandt bei Menschen ähnliche Resultate hervorrufen (2). Wir laden Sie ein, das Buch von Olivier Ameisen zu lesen um sich mit der Wirkung von Baclofen vertraut zu machen.
2. Wen und wann mit Baclofen behandeln? Als Erstbehandlung? Wenn alle anderen Therapieformen scheiterten?
Das letzte Kommunikee der französischen Alkohologischen Gesellschaft besagt, dass Baclofen eine therapeutische Option sein könnte, nachdem alle anderen, sorgfältig durchgeführten Therapieformen gescheitert sind (9). Das ist das, was bei Olivier Ameisen der Fall war, bevor er in einer Art verzweifeltem Energieschub den Selbstversuch mit 270 mg Baclofen unternahm. Seit 2006, als die ersten derartigen Therapien begannen, wurden sie meistens mit Patienten durchgeführt, die schon Vieles versucht hatten, aber nie dauerhaft von Ihrem Alkoholproblem befreit wurden. Indes begannen mit dem Medienecho immer mehr therapeutisch gesehen „frische“ Patienten nach der Behandlung zu fragen. Soll man dieser Nachfrage stattgeben? Ohne Zweifel wird es infolge (und je nach Resultat) kleinerer Untersuchungsreihen, laufenden kontrollierten Studien und Erfahrungen von Ärzten / Therapeuten ein Ansteigen der Therapie-Zahlen geben. Einige unter uns wenden Baclofen als Erst-Therapie an, Andere machen es vom bisherigen Scheiteren übriger Therapieformen abhängig. Da es keine offizielle Gegenüberstellung von Baclofen- und anderen Therapieformen gegen Alkoholabhängigkeit gibt, ist es schwierig, diese Frage formell zu beantworten. Hier nun einige Elemente die Ihre Therapie weiter beleuchten könnten:Wenn Sie alle diese Parameter in Rechnung stellen, werden Sie entscheiden können, ob eine Therapie mit hoher Baclofendosierung in Frage kommt. Wissen müssen sie auch, dass Konterindikation vor allem bei schweren Nierenproblemen und bei nichtstabilisiert Epilepsie besteht. Wichtige Elemente die dafür sprechen sind vor allem die Alkohol-Vorgeschichte mit Entzugsversuchen und deren Scheitern sowie die Motivation die der Patient Baclofen entgegenbringt.
- Wie ist die Vorgeschichte des Patienten mit Alkohol?
- Wie empfindet der Patient selbst die Auswirkungen seinen Alkoholkonsum? Als sehr schlimm? Minimal?
- Hat der Patient bereits nichtmedikamentöse Behandlungen (z.B. Kuren) hinter sich? Welche? Wie lange? Wie oft? Mit welchem Resultat?
- Hat der Patient schon Medikamente zur Behandlung seiner Alkoholprobleme genommen? Welche? Mit welchem Resultat?
- Fragt der Patient selber nach Baclofen? Was weiß er über das Medikament? Was erwartet er? Weiß er, dass die Behandlung experimentell ist und keine behördlich Zulassung bei Alkoholproblemen besitzt?
- Ist oder war der Patient wegen psychischen Problemen in Behandlung: Depressionen, Angstzustände, Bipolare Störungen? Persönlichkeitsstörungen? Nimmt er Psychopharmaka? Welche? Seit wann? Mit welchem Ergebnis?
- Hat der Patient zurzeit maßgebliche medizinische Probleme oder gab es entsprechende Vorerkrankungen: Epilepsie, Herz- Leber- Nierenprobleme, Magen- oder andere Geschwüre? (Franz: „ulcère gastrique ou ulcère évolutif“)
- Welches sind sein persönliches Lebensumstände? Soziales Netz? Familiäre Unterstützung? Berufliches Umfeld?
3. Welche wichtigen Informationen müssen Sie einem Patienten mitgeben, wenn Sie ihm Baclofen verschreiben?4. Wie sollten Sie Baclofen verschreiben?
- Die Behandlung bezweckt, Sie gleichgültig gegenüber Alkohol zu machen, d.h. die ständigen Gedanken an ihn zum Verschwinden zu bringen. Der Gedanke an Alkohol wird zunehmend ein Gedanke sein wie jeder andere auch und wird nicht mehr Ihr Dasein bestimmen. Das Endziel ist, Sie von der Lust zu trinken zu befreien. Strikte und lebenslange Abstinenz ist nicht mehr das erklärte Ziel.
- Baclofen ist ein „altes“ Medikament welches seit mehr als 40 Jahren bei Muskelspannung (Spastizität) der Muskulatur, bedingt durch deren Inaktivität, z.B. bei gelähmten Personen angewendet wird. Darum weiß man auch über dessen Nebenwirkungen und Pharmakologie sehr gut Bescheid. Es gibt auch einige Arbeiten über die Verwendung hoher Dosierungen (10) (11) sowie möglicher Interaktionen mit Alkohol (12). Man weiß also, worauf man sich mit dem Medikament einlässt.
- Die Dosis die Sie benötigen um diese Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol zu erreichen ist nicht standardisiert und wird, abhängig von der Wirkung des Medikamentes und Ihren Empfindungen, Schritt für Schritt im Laufe der Therapie gesucht. Sie werden selbst spüren, welches die für Sie optimale Dosis ist. Die Höhe dieser Dosis und die dabei auftretenden Nebenwirkungen können bei Therapie-Beginn nicht vorhergesagt werden.
- Die Dosis, welche Sie benötigen werden, können markant über denjenigen liegen, welche normalerweise für dieses Medikament verschrieben werden, und schwanken zwischen 0,5 und 4 mg (manchmal sogar mehr) pro Tag und Kg Köpergewicht. Für eine Person mit 70 Kg entspricht dies 30 bis 280 mg pro Tag.
- Sie müssen die Dosis langsam erhöhen um unerwünschte Nebenwirkungen gering zu halten die nämlich dann auftreten, wenn Sie die Dosis zu schnell erhöhen. Um die wirksame Dosis zu erreichen, werden durchschnittlich sechs bis zwölf Wochen benötigt.
- Die unerwünschten Nebenwirkungen kennt man sehr gut, aber sie treten nicht automatisch bei Jedermann auf. Sie können überhaupt keine unerwünschten Nebenwirkungen verspüren oder gleich mehrere davon, in unterschiedlicher Stärke. Ihr zeitlicher Verlauf ist unterschiedlich, jedoch mit der Tendenz, sich mit der Zeit zu verringern. Auf alle Fälle gehen sie zurück oder verschwinden ganz, wenn Sie die Dosis verringern oder unter Umständen sogar die Medikamenteneinnahme ganz einstellen.
- Die Dauer der Behandlung hängt von Ihrem eigenen Empfinden ab. Einige Patient stellen die Medikamenteneinnahme ein und haben keine Alkoholprobleme mehr, aber die meisten müssen die Behandlung fortsetzen weil sie sonst Rückfälle erleiden.
- Im Allgemeinen verharren Sie mehrere Wochen oder Monate auf der Maximaldosis, erst danach werden Sie die Dosis verringern und Ihre Erhaltungsdosis finden können. Es fehlen Erfahrungswerte, um das präziser angeben zu können.
Beginn der Behandlung.
Es besteht dahingehend Einigkeit, die Dosis langsam zu erhöhen. Im Allgemeinen beginnt man mit ungefähr 15 mg, drei bis vier Tage später geht man auf 30 mg. Danach erhöht man um 10 mg alle drei bis fünf Tage bis zur therapeutisch wirksamen Dosis, welche von Patient zu Patient unterschiedlich und nicht vorhersehbar ist. Einige behandelnde Ärzte / Therapeuten hinterfragen auch die Abhängigkeit von Dosis und Gewicht der Patienten. Die meisten Ärzte / Therapeuten empfehlen, die Dosis auch dann nicht schneller zu erhöhen, wenn das Medikament gut verträglich ist. Andere bevorzugen eine schnellere Dosiserhöhungen von 20 mg alle drei bis vier Tage in den ersten zwei, manchmal vier Wochen, danach verlangsamen sie die Erhöhung auf 10 mg alle drei bis vier Tage oder 20 mg pro Woche.
Wenn die unerwünschten Nebenwirkungen zu groß werden, wird empfohlen, zunächst auf dieser Dosis zu bleiben. Dann ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder die unerwünschten Nebenwirkungen lassen nach / verschwinden und man fährt mit der Dosiserhöhungen fort, oder sie lassen nicht nach / verschwinden nicht. Dann ist es geboten, zu der Dosis zurückzukehren, bei der es diese Art von Problemen nicht gab. Sollte dies noch nicht die therapeutisch wirksame Dosis sein, kann man nach ein oder zwei Wochen einen weiteren Versuch der Dosiserhöhungen unternehmen.
Einige behandelnde Ärzte / Therapeuten legen bei gewissen Dosis-Stufen eine längere Pause ein: 30 mg, 60 mg, 100 mg, 150 mg …
Untersuchungen haben gezeigt, dass die durchschnittliche Dosis bei etwa 150 mg pro Tag liegt und zwischen 30 mg und 400 mg pro Tag schwankt. Es liegt im Ermessen des Arztes / Therapeuten und desjenigen des Patienten (subjektives Empfinden), die richtige Dosis zu finden. Nach den ersten zwei Wochen muss die Behandlung, in Abhängigkeit von der Reaktion des Patienten, immer individuell gestaltet werden.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass es nicht notwendig ist, dass der Patient bei Beginn der Baclofen-Therapie abstinent ist. Diese Frage kann mit dem Patienten erörtert werden und deren Beantwortung hängt vom Allgemeinzustand und vom erwarteten Nutzen einer solchen Abstinenz ab. Bei vorausgehender Abstinenz ist es vorteilhaft, den Patienten auf ein erhöhtes Epilepsie-Risiko (?) (Franz: „le baclofène abaisse le seuil épileptogène“) hinzuweisen (Anm. DQ: Warum eigentlich nur bei vorausgehender Abstinenz?). Es kann auch vom Patienten verlangt werden, sich aus freien Stücken um die Verringerung seines Alkoholkonsums zu bemühen, bis sich die „Gleichgültigkeit“ einstellt. Das bestärkt ihn in seinem Gefühl, aktiv bei der Therapie mitwirken zu können: Er sucht nicht mehr nach Trinkgelegenheiten im sozialen Umfeld, wird sich seiner Gewohnheiten und Rituale im Zusammenhang mit Alkohol bewusst und befreit sich davon, außerdem sucht er andere Möglichkeiten der Bewältigung von Alltags-Stress.
Weiterführung der Behandlung.
Wenn man die erwünschte, gut tolerierte Dosis erreicht hat, wird empfohlen, sie zwei bis drei Monate beizubehalten (manchmal mehr, manchmal weniger). Danach wird man sich bemühen, die kleinste noch wirksame Dosis zu finden. Es gibt kein gesichertes Schema für diese Dosisverringerung. Eine Art, diese kleinste noch wirksame Dosis zu finden, ist die Dosisverringerung bis zur Rückkehr von Trinkgelüsten. Danach erhöht man die Dosis wieder um eine Stufe. Die Dosisverringerung kann langsam erfolgen (10 mg pro Woche) oder in größeren Schritten (zurück auf zwei Drittel der Dosis) und dortiges Verharren während einem oder zwei Monaten. Die Erhaltungsdosis liegt oft zwischen einem Drittel und der Hälfte der Maximaldosis.
Lebenslanges Fortführen der Behandlung?
Baclofen wird bei Alkoholabhängigkeit noch nicht lange genug angewandt, um hier eine belastbare Aussage machen zu können. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass es für einige Personen möglich war, die Medikamenteneinnahme nach einigen Monaten oder Jahren einzustellen, aber es handelt sich dabei um eine Minderheit. Für die anderen heißt es abwarten.
5. Welches sind die unerwünschten Nebenwirkung (UNW) und wie kann man ihnen entgegentreten?
Die UNW sind zahlreich und deren Auftreten im Laufe der Behandlung, außer Schläfrigkeit, der häufigsten UNW, unvorhersehbar. Die nachstehende Aufzählung ist nicht abschließend, sie entspricht der bei Behandlung angetroffenen UNW, ebenso die Art und Weise ihnen zu begegnen.
Die fortschreitende Behandlung favorisiert das Auftreten vieler dieser UNW. Sie haben den Vorteil, sich bei Reduzierung der Dosis zu verringern oder zu verschwinden. Letzteres geschieht in jedem Fall bei Einstellung der Behandlung.
Erstaunlich und bemerkenswert ist der Umstand, dass viele Patienten die Behandlung trotz hohen und beeinträchtigenden UNW fortsetzen.
Die häufigsten:Die weniger häufigen:
- Schläfrigkeit: Die meistverbreitete und am meisten zu erwartende UNW. Die Patienten beschreiben ein plötzliches, unwiderstehliches Bedürfnis, zu schlafen, mehr als nur eine allgemeine Schläfrigkeit. Diese UNW tritt im Allgemeinen schon in den ersten Tagen der Behandlung auf. Sie tendiert dazu, sich im Lauf der Zeit zu bessern, ist aber manchmal sehr störend, vor allem bei Personen die einer Arbeit nachgehen. Es wird häufig berichtet, dass sie nach dem Mittagessen am schlimmsten sei. Um dies zu vermeiden, sind einige Patienten dazu übergegangen, ihr Medikament erst nach dem Mittagessen einzunehmen. Man muss auch Autofahrer gewissenhaft darauf hinweisen, ihr Fahrzeug, besonders bei Behandlungsbeginn, nicht zu benutzen.
- Müdigkeit / Erschöpfung: (Franz: „fatigue“) Eine weitere UNW, von der immer wieder berichtet wird. Sie tritt in ihrem Zeitlichen Verlauf ähnlich wie die Schläfrigkeit auf. Die Patienten berichten manchmal von „Müdigkeit / Erschöpfung “, von „Schläfrigkeit“ oder von beidem zusammen. Einige Patienten beklagen sich manchmal über eigentlichen Muskelkater, besonders in den Armen und Beinen.
- Schwindel: Die Patienten berichten von unterschiedlicher Intensität und beschreiben sie als unangenehme Wahrnehmungen während derer sie Angst haben zu stürzen. Aus der Sicht der medizinische Semiologie handelt es sich um scheinbare Schwindel (Franz: faux vertiges). Diese Schwindelphänomene treten häufig morgens auf und lassen im Laufe des Tages nach. Wenn sie zu hinderlich werden, muss die Dosierung vorübergehend oder dauerhaft reduziert werden.
- Kopfschmerzen: Sie treten vor allem morgens auf und lassen während des Tages nach. Man kann sie sehr gut mit den üblichen Medikamenten behandeln. Kopfschmerzen verflüchtigen sich normalerweise im weiteren Verlauf der Behandlung.
- Übelkeit, Erbrechen, Verdauungsprobleme: Es ist schwierig, diese Beschwerden eindeutig dem Medikament zuzuordnen, vor allem zu Beginn der Behandlung und insbesondere wenn die Patienten mit dem Trinken aufhören. Nichtsdestotrotz sind die Nennungen vor allem diejenige der „Übelkeit“ zahlreich, wenn auch nur vorübergehend.
- Schlafstörungen: In der Tat ein widersprüchliches Bild: Die Patienten berichten über Tagesmüdigkeit einerseits und Schlafstörungen andererseits. Ein Schlafmittel ist dann erforderlich, wenn das Schlafdefizit zu groß wird. Solche Schlafstörungen können auch von psychomotorischen Störungen unterschiedlicher Intensität begleitet sein (auch Sprachstörungen), die von Angehörigen als unangenehm empfunden werden. Diese UNW ergeben sich nicht immer mit der Zeit. Manchmal treten auch äußerst realistische und erschreckend wirkende Träume oder Albträume auf, die sich destabilisierend auswirken können.
6. Reicht Baclofen alleine? Müssen auch andere, gleichzeitige angewendete Therapieformen in Erwägung gezogen werden?
- Zittern: In der Regel leichtes Zittern der Hände. Es bildet sich im Laufe der Behandlung nur leicht zurück.
- Diplopie: ( Doppelbild-Sehstörungen). Bedingt durch die muskelentspannende Eigenschaft von Baclofen. Kann bei fortgeschrittener Behandlungsdauer auftreten.
- Schmerzhafte Parästhesie in den Gliedern: (Aus Wikipedia: „Parästhesie ist eine Empfindung im Versorgungsgebiet eines Hautnervs ohne erkennbare adäquate physikalische Reize. Sie wird von den Betroffenen meist als Kribbeln, „Ameisenlaufen“, Pelzigkeit, Prickeln, Jucken, Schwellungsgefühl und Kälte- oder Wärmeempfindung beschrieben“) Sie tritt meist nachts auf, kann sehr hinderlich sein und die Weiterführung der Therapie ernsthaft in Frage stellen. Die Patienten berichten von einem Druck- (Franz: „serrement“) ja sogar Erdrückungsgefühl (Franz: écrasement) der Glieder. Sie vergehen oft nicht und erfordern meistens eine vorübergehende oder dauerhafte Verringerung der Dosis.
- Apnoe: Kurze nächtliche Atemaussetzer während des Schlafes. Es sollte abgeklärt werden, ob Baclofen eine bestehendes Schlafapnoe-Syndrom zu Tage treten ließ oder dessen Ursache ist.
- Manische oder Hypomanische Zustände: Ohne Zweifel selten, aber dennoch besorgniserregend. Sie manifestieren sich durch verringertes Schlafbedürfnis, nächtliche Aktivität, rasendes Gedankenkreisen (Franz: „tachypsychie“), enthemmtes Verhalten (Franz: „désinhibition comportementale“), übermäßigen Redefluss (Franz: „logorrhée) und allgemein konfuses Verhalten. Diese Zustände können auch bei Patienten auftreten, welche keine entsprechenden Vorerkrankungen hatten (z.B. Bipolare Störung). In einer solchen Situation muss die Therapie heruntergefahren oder ganz eingestellt werden. Die Verschreibung eines Beruhigungsmittels oder besser eines Medikamentes zur Stimmungsstabilisierung (z.B. Valproinsäure) kann manchmal bis zum Verschwinden der Symptome helfen.
- Schwere Zustände von Verwirrung: Diese können ansteigend oder urplötzlich auftreten. Durch seine verstörende Wirkung beunruhig es das soziale Umfeld des Patienten während sich dieser seiner Lage nicht immer bewusst ist. In einer solchen Situation muss die Therapie heruntergefahren, ganz eingestellt und sogar die Einweisung in eine Klinik in Erwägung gezogen werden. Das Einstellen der Baclofen-Therapie führt immer zum Verschwinden dieses Syndroms.
- Depressionen: Sie können durch unterschwellige Depressionen hervorgerufen werden, welche bisher durch den Alkoholkonsum kompensiert wurden oder sie können das Resultat einer plötzlichen und schmerzhaften Bewusstwerdung des physischen, psychischen und sozialen Niedergangs sein.
- Andere unerwünschte Nebenwirkungen: Einige Patienten verspürten schmerzendes Zahnfleisch, Artikulationsschwierigkeiten, Formen des Tinitus, Brustdruck, Ödeme an den äußeren Extremitäten oder auch Probleme mit dem Urinieren.
- Orgasmus-Probleme: Diese unerwünschte Nebenwirkung scheint häufig aufzutreten, wird in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Listen jedoch nicht immer aufgeführt. Zukünftige Studien sollten sich dem widmen und die Häufigkeit des Auftretens ermitteln.
Baclofen zielt darauf ab, das Trinkverlangen (Craving) zu unterdrücken und die Patienten von ihrer Alkoholsucht zu befreien. Olivier Ameisen, der sich vor Baclofen einer großen Zahl anderer Behandlungen unterzog und tausende Sitzungen der Anonymen Alkoholiker besuchte, hat in seinem Buch („Das Ende meiner Sucht“) sehr deutlich beschrieben, dass ihm Baclofen ermöglichte, all das umzusetzen, was er in den Verhaltenstherapeutischen Behandlungen und in den Selbsthilfegruppen erlernt hatte. Baclofen gab ihm den Freiraum, sein Leben zu reflektieren und neu auszurichten. Er konnte dies nun mit den erlernten Strategien tun, was zuvor wegen des allgegenwärtigen Trinkverlangens (Craving) nicht ging.
Viele unter uns waren von der speziellen Art der Patientengespräche (Baclofen mit hoher Dosierung) ziemlich überrascht. Oft, am Anfang jedenfalls, sind das Gespräche, bei denen es nur um das Medikament als solches geht, um unerwünschte Nebenwirkungen (UNW), Dosierungsfragen, Variationen des Trinkverlangens (Craving). Wenn dann die erwünschte therapeutisch wirksame Dosis erreicht ist, zum Preis von geringfügigen UNW, verbleiben immer noch zahlreiche Probleme. Insbesondere Probleme im psychosozialen Bereich. Baclofen, und sei es noch so wirksam, heilt nicht die Einsamkeit, den Lebensschmerz, Beziehungsprobleme oder Arbeitslosigkeit. Aber es erlaubt eine gewisse Distanz um der Realität des Alltags zu begegnen. Dazu gehört auch die Konfrontation mit Verlusten und Beschädigungen. In dieser Situation ist es äußerst wichtig, die Patienten auf ihrem Weg in die psychosoziale Wiedereingliederung weiter zu begleiten, ihren psychischen Zustand zu stabilisieren, sie zu ermutigen und ihnen beim Kampf aus der Isolation und zu neuer Lebensfreude zu helfen. Um all dies zu erreichen, ist ein multidisziplinärer Ansatz erforderlich.
In den Fällen von Angststörungen, Depressionen, Bipolarem- oder Borderline-Syndrom, wo Alkoholismus nur eines der Symptome ist, muss die diesbezügliche, angemessene psychiatrische Behandlung weitergeführt werden. Die Verträglichkeit von Baclofen mit den üblichen Psychopharmaka (Benzodiazepine, Schlafmittel, SSRI, Neuroleptika) ist gut.
Psychotherapeutische Arbeiten, verhaltenstherapeutisch induziert oder nicht, genauso wie die Teilnahme an Sitzungen von Selbsthilfegruppen bleiben eine wertvolle Hilfe. Wobei es bei den letzteren Problematisch ist, falls der Patient den Weg der totalen Abstinenz nicht gewählt hat. All das muss noch gesucht und gefunden werden. Der durch Baclofen in hoher Dosierung mögliche Paradigmenwechsel bei der Behandlung des Alkoholismus muss ein gesamtheitliches Überdenken der therapeutischen Möglichkeiten nach sich ziehen.
Der Nutzen von Baclofen liegt in den neue Möglichkeiten die der Patient jetzt hat, die Möglichkeit sein Leben zu überdenken und es neu zu gestalten.
Wie bei jeder Überwindung von Sucht gibt es depressive Momente, ja auch Depression. Der Patient sieht jetzt sich und seine eigene Realität im Spiegel, die sich vorher hinter dem Alkohol verbarg. Ihn bei diesem ganz persönlichen Neubeginn zu begleiten ist Teil des therapeutischen Projekts.
Auch im persönlichen Umfeld des Patienten muss ein Umdenken stattfinden: Weg vom ganzen Arsenal an Druckmitteln des Abstinenzgedankens und hin zu einer Logik der Verringerung des Konsums. Einige Ärzte / Therapeuten erachten es als nützlich, auch mit dem persönlichen Umfeld des Patienten (Familie, Freunde) regelmäßig zu sprechen um ihnen diesen Wechsel zu erklären und zu erleichtern.
7. Was riskieren Sie wenn Sie Baclofen verschreiben? Anwendung ohne Marktzulassung (Frankreich).
Die Verwendung von Medikamenten außerhalb ihres eigentlichen Verwendungsbereiches ist in vielen medizinischen Disziplinen weit verbreitet (Allgemeinmedizin, Pädiatrie, Psychiatrie, …). Es kam häufig vor, dass ein Medikament in einem anderen Bereich als ursprünglich vorgesehen völlig unerwartete Wirkungen zeigte (Aspirin -> Kardiologie, Carbamazepin -> Stimmungsstabilisierung, Antidepressiva -> Behandlung chronischer Schmerzen etc.).
Der Gesetzgeber hat das entsprechend berücksichtigt und die Rahmenbedingungen dafür geschaffen (13) (14). Die Verschreibung außerhalb der eigentlichen Marktzulassung ist unter folgenden Bedingungen gestattet:Unter diesen Bedingungen ist eine Behandlung außerhalb der Marktzulassung legitimiert und auch ethisch gerechtfertigt. Sie trägt allerdings wegen gravierender Nebenwirkungen immer noch ein gewisses Risiko in sich. Angenommen zum Beispiel ein schläfriger Patient verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und verursacht dabei einen Unfall mit Todesfolge.
- Wissenschaftlich erhobene Daten müssen die Verschreibung rechtfertigen.
- Es muss ein therapeutisches Interesse verbleiben, nachdem andere, sorgfältig durchgeführte Therapien scheiterten.
- Der Patient muss umfassend über die Vorteile und Risiken der Therapie aufgeklärt werden.
- Es muss eine eindeutige schriftliche Zustimmungserklärung des Patienten geben die letzterer im vollen Bewusstsein der Tragweite der Behandlung abgibt.
- Es muss eine angemessene medizinische Begleitung stattfinden.
- Der Patient trägt die Kosten der Behandlung selbst.
Zustimmungserklärung zur Behandlung mit Baclofen.Name: Datum/Ort: Unterschrift und Einverständnis:
- Ich, der Unterzeichnende, bestätige, von Dr. ………………………………………. umfassend über die Therapie meiner Alkoholprobleme mit Baclofen in hoher Dosierung informiert worden zu sein.
- Ich weiß, dass diese Behandlung keine offizielle Zulassung der zuständigen Behörden besitzt. Ich wünsche diese Behandlung trotz möglicher unerwünschter Nebenwirkungen, weil ich bisher keine wirksame Therapie für meine Alkoholprobleme gefunden habe.
- Ich habe die hauptsächlichen unerwünschten Nebenwirkungen zur Kenntnis genommen und verstanden: Schläfrigkeit, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel und Schlafstörungen. In seltenen Fällen können schwere Zustände von Verwirrung auftreten. Dr. ………………………………………. hat mich informiert, dass dann vorübergehend keine Dosiserhöhungen mehr stattfinden oder vielleicht die Therapie ganz abgebrochen wird.
- Um ihn in die Lage zu versetzen, besondere Vorsichtsmaßnahmen bei der Medikamenteneinnahme anzuordnen, habe ich Dr. ………………………………………. umfassend und wahrheitsgetreu über meine medikamentöse Vorgeschichte informiert.
- Ich habe zur Kenntnis genommen, dass es beim Absetzen des Medikamentes zu Entzugserscheinungen kommen kann und dass dieses Absetzen deshalb langsam, nicht abrupt und nach den Anweisungen von Dr. ………………………………………. erfolgen muss.
- Ich verpflichte mich, keine Fahrzeuge oder gefährliche Maschinen zu führen, für eine Dauer, die mindestens dem Zeitraum der Dosiserhöhungen entspricht und diese Art von Aktivitäten erst nach Rücksprache mit Dr. ………………………………………. wiederaufzunehmen.
- Ich verpflichte mich, mich genauestens an die Anweisungen von Dr. ………………………………………. zu halten und diesen stets über Schwierigkeiten und Probleme im Laufe der Behandlung zu informieren.
- Sollte ich wegen der Therapie in Schwierigkeiten geraten, werde ich meine Angehörigen nachdrücklich darum bitten, keine rechtlichen Schritte gegen Dr. ………………………………………. einzuleiten. (Über diesen Punk herrscht bei den Autoren dieses Leitfadens keine Einigkeit)
- Ich hatte genügend Zeit, meine Entscheidung für oder gegen diese Therapie zu treffen.
Medikamentierungs-Plan:
Hier folgt im Leitfaden in tabellarischer Form ein Beispiel für einen Medikamentierungs-Plan. Er beruht auf vier Medikamenten-Gaben pro Tag (08:00 / 13:00 / 18:00 / Beim Zubettgehen ) und auf einer Steigerung von Null auf 200 mg/Tag in insgesamt 71 Tagen.
- Medikament: Lioresal ®, 10 mg Tabletten
- Angenommene therapeutisch wirksame Dosis: 200 mg / Tag
Anmerkung DonQuixote: Dieses Protokoll ist sehr, sehr vorsichtig langsam und versucht, Nebenwirkungen möglichst aus dem Weg zu gehen. Man kann das Tempo der Aufdosierung, wenn man das Medikament (Baclofen) gut verträgt, aber auch locker verdoppeln.
Nachweise:
- Olivier Ameisen. „Das Ende meiner Sucht“, Kunstmann 2008, ISBN ISBN 978-3-88897-585-1
- Ameisen O. Complete and prolonged suppression of symptoms and consequences of alcohol-dependence using high-dose baclofen: a self-case report of a physician. Alcohol and Alcoholism 2005 Mar-Apr; 40(2): 147-5
- Ameisen O et De Beaurepaire R. Suppression de la dépendance à l’alcool et de la consommation d’alcool par le baclofène à haute dose : un essai en ouvert. Annales Médico-Psychologiques 2010 ;168 : 159-162
- Dore GM, Lo K, Juckes L, Bezyan S, Latt N. Clinical experience with baclofen in the management of alcohol-dependent patients with psychiatric comorbidity: a selected case series. Alcohol Alcohol. 2011 Nov;46(6):714-2
- Rigal L, Alexandre-Dubroeucq C., de Beaurepaire R., Le Jeunne C., Jaury P. Abstinence and ‘low risk’ consumption one year after the initiation of high-dose baclofen: a retrospective study among ‘high risk’ drinkers. Alcohol and Alcoholism, 2012 (in Press)
- Bucknam W. Suppression of symptoms of alcohol dependence and craving using high-dose baclofen. Alcohol Alcohol 2007;42:158–160.
- Agabio R, Marras P, Addolorato G, Carpiniello B, Gessa GL. Baclofen suppresses alcohol intake and craving for alcohol in a schizophrenic alcohol-dependent patient: a case report. J Clin Psychopharmacol 2007;27:319–320.
- Pastor A, Jones DM, Currie J. High-Dose Baclofen for Treatment-Resistant Alcohol Dependence. J Clin Psychopharmacol 2012;32:266–268.
- http://www.sfalcoologie.asso.fr/
- Smith, C. R., LaRocca, N. G., Giesser, B. S. and Scheinberg, L. C. (1991) High-dose oral baclofen: experience in patients with multiple sclerosis. Neurology 41, 1829-31
- Leung NY, Whyte IM, Isbister GK. Baclofen overdose: defining the spectrum of toxicity. Emerg Med Australas. 2006;(1):77-82.
- Evans SM et al. Acute interaction of baclofen in combination with alcohol in heavy social drinkers. Alcohol Clin Exp Res 2009; 33 : 19-30.
- Paoletti O. La prescription hors AMM. Neurologie, 2003 ; 6 :46-48
- Rolland B, Deheul S, Danel T, Bordet R et Cottencin O. Un dispositif de prescriptions hors-AMM : exemple du baclofène. Thérapie 2010; 65 (6): 511–518
Uff! Erst mal durchatmen …
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Zuerst eine ganz leise geflüsterte Kritik: Dort wo steht: „Es gibt auch einige Arbeiten über die Verwendung hoher Dosierungen.“ hätte man ruhig noch hinzufügen können: „selbst über einen langen Zeitraum.“ Die zitierten Studien geben das nämlich her (meint jedenfalls die Autorin der Doktorarbeit ).
Aber ansonsten? FORMIDABLE!
Wirklich neu und überraschend ist daran (fast) nichts. Aber es ist VIEL BREITER abgestützt als alles bisher Gelesene, was sowohl die Autorenschaft als auch die Anzahl der beobachteten Patienten betrifft. Neu für mich, und ich denke für Euch auch, sind die Dosierungsempfehlungen um und nach der Maximaldosierung. Ich wiederhole sie an dieser Stelle nochmal:
Französische Ärzte hat geschrieben:Im Allgemeinen verharren Sie mehrere Wochen oder Monate auf der Maximaldosis, erst danach werden Sie die Dosis verringern und Ihre Erhaltungsdosis finden können.
Und:
Französische Ärzte hat geschrieben:Wenn man die erwünschte, gut tolerierte Dosis erreicht hat, wird empfohlen, sie zwei bis drei Monate beizubehalten (manchmal mehr, manchmal weniger).
Und jetzt wird auch deutlich (nicht nur deswegen) dass die Vorgehensweise von @fetsecht und @Meister grundfalsch ist: Erhöhung der Dosis in rasendem Tempo bis zur nicht oder kaum noch verträglichen, dortiges Verharren für ein paar wenige Tage und dann Dosisverringerung in ebenso rasendem Tempo. Da hilft dann auch die Ausrede „Aber die Dosisfindung ist für jede Person verschieden!“ nicht mehr. Und auf Olivier Ameisen kann man sich auch nicht beziehen, der blieb bekanntlich „nur“ 12 Tage auf seiner Höchstdosis von 270 mg/Tag. Aber der hatte gar keine AHNUNG, wie so etwas funktioniert, wie auch, er war ja der Erste!
Interessant ist das Papier auch, um es Eurem Arzt / Therapeuten zu zeigen, wenn der von der Baclofen-Therapie nicht so richtig überzeugt ist. Deshalb wird es bald auch eine downloadbare Version im PDF-Format geben.
Weiterhin viel Spaß beim Schmökern wünscht DonQuixote