Also in Frankreich geht ziemlich die Post ab. Nicht nur in den beiden Baclofen-Foren, sondern auch sonst. (Nein, ich meine nicht den neuen Mr. le président de la république). Dazu später vielleicht mehr.
Mein heutiges Fundstück (via eines der beiden Foren):
Dr. Annie Rapp hat geschrieben:
Bilanz nach 2 Jahren Verschreibung von Baclofen gegen Alkoholismus. Dezember 2011. Dr. Annie Rapp
Ich habe mit der Verschreibung von Baclofen im Herbst 2009 begonnen. Einige Monate zuvor las ich einen Artikel über dieses Medikament und das Buch von Oliver Ameisen.
Bis dahin habe ich mit den bisherigen Therapieansätzen keine Erfolge bei der Behandlung von Alkoholabhängigen gekannt. Freiberuflich praktiziere ich seit Anfang der 80er Jahre. Davor arbeitete ich ein knappes Dutzend Jahre in der Psychiatrie öffentlicher Einrichtungen, zuerst intern, danach als Vertragsarzt (franz: „médecin vacataire“).
Für mich konnte die Entdeckung einer wirksamen Behandlung des Alkoholismus nur eine gute Nachricht sein und ich wollte diese Behandlung anwenden um mich selbst von der Wirkung zu überzeugen. Ich hinterließ also eine Nachricht auf Seite der Assoziation AUBES, welche verschreibende Ärzte suchte.
So kam ich zu meinen ersten Patienten. Dann sind mehrere Artikel in der Presse erschienen, bei denen ich mitgewirkt habe. Meine Mail-Adresse war im Internet leicht zu finden und so begannen Patienten in meine Praxis zu strömen …
Diesen Sommer habe ich die Patientenakten meiner Baclofen-Patienten, wie ich sie nenne, ausgewertet. Das Resultat bestätigt, was bereits Olivier Ameisen et Renaud de Beaurepaire zum Ausdruck brachten.
Hier nun einige meiner Schlussfolgerungen.
Ich habe von August 2009 bis zum 14 Juli 2011 insgesamt 152 (*) Patientenakten angelegt. Hier habe ich dann mit der Auswertung begonnen.
Ich habe keine Patienten-Selektion vorgenommen. Jeder der dies wünschte erhielt im Rahmen meiner Möglichkeiten einen Termin. Die Anfangsvereinbarung war, zuerst zu einer ersten Konsultation von einer Stunde zu erscheinen. Sie diente dazu, den Patienten kennenzulernen, die Behandlung festzulegen und das Medikament zu verschreiben. Danach folgten für die nächsten zwei Monate eine Konsultation alle zwei Wochen um die Behandlung weiter zu verfeinern.
Die zweiwöchigen Konsultationen dienten dazu, die Dosierung in Abhängigkeit von positiver Wirkung und Nebenwirkung festzulegen und bis zum gewünschten Resultat unterstützend einzugreifen. Letzteres wurde von einigen rasch erzielt (2 Monate), andere benötigten mehrere Monate.
Danach bestand die Behandlung in der Neuausstellung des Rezeptes, zunächst für einen Monat, danach für einen Monat 2-fach wiederholbar. Die Erhaltungsdosis liegt im Allgemeinen um einiges tiefer als die Dosis der Heilungsstufe. Jedenfalls liegt die Erhaltungsdosis stets in einem komfortablen Bereich, in welchem der Patient praktisch keine Nebenwirkungen mehr verspürt.
Die Hälfte der Patienten brauchte nichts anderes als das. Das Medikament genügte. Die andere Hälfte bedurfte während einiger Monate einer wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Psychotherapie.
Das Verfahren war, mit einem Rezept für 15 Tage, mit 20 mg zu beginnen und alle drei/vier Tage um 20 mg zu erhöhen. Danach wurde die weitere Erhöhung für jeden Einzelfall festgelegt. Immer in Abhängigkeit von positiver Wirkung und empfundenen Nebenwirkung. Die meisten haben in der Anfangszeit der Behandlung ihren Alkoholkonsum nicht eingestellt. Bei den erfolgreichen Fällen nahm der Konsum kontinuierlich ab, bis er entweder ganz abgesetzt wurde oder es nur noch gelegentlich und sehr moderat dazu kam.
Ich habe die Patientenakten in vier Kategorien eingeteilt:Wenn ich bei denen, die die Therapie absolvierten, d.h. zu den Konsultationen kamen und das Medikament mehr als 2 Monate einnahmen die Prozentauswertung von Erfolg und Misserfolg mache, zähle ich 2.) und 3.) zusammen und komme auf 76 Personen.
- Diejenigen, welche die Behandlung nach dem ersten Monat abgebrochen haben. 31 Personen, 20,4 %
- Diejenigen, welche mehr als 2 Monate in Behandlung waren, diese jedoch scheiterte. (Vorläufig, denn sie können zur Behandlung zurückkehren) 19 Personen, 19,5 %
- Diejenigen, für die Alkohol kein Problem mehr ist, sei es, weil sie keinen mehr trinken, oder sei es, weil dies nicht mehr zwanghaft und nur noch in sehr moderatem Maße erfolgt. 57 Personen, 37,5 %
- Diejenigen, deren Therapie noch andauert, bisher mehr als drei Monate dauerte, die jedoch den gewünschten Erfolg noch nicht haben. 24 Personen, 15,8 %
Resultat OK: 75 %
Resultat nicht OK: 25 %
Mit den Patienten deren Resultat OK ist bleibe ich in Kontakt um die Situation auch langfristig bestätigen zu können. Dies könnte natürlich die Resultate nochmals verändern. Einige als gescheitert eingestufte könnten von einem anderen Arzt erfolgreich behandelt werden und andere, bisher erfolgreiche, könnten Rückfällig werden ohne mich zu informieren.
Ich habe auch die Faktoren untersucht, die eine Voraussage erlauben, wie gut oder schlecht ein Patient auf die Behandlung anspricht, und wie die Patienten, welche bisher nicht erfolgreich waren, besser begleitet werden können.
Erfolgsfaktoren sind nach meinen ersten Auswertungen:Wie bereits erwähnt sind die hauptsächlichen Gründe für den Misserfolg:
- Der völlig freiwillige Entschluss der Person, sich der Behandlung zu unterziehen.
- Der Umstand, vor der Behandlung sozial kontrolliert zu trinken, d.h. abends, alleine oder diskret.
- Die Person hat noch neue Lebensperspektiven.
- Wenn psychische Probleme erfolgreich behandelt wurden und nur noch biologische Faktoren die Sucht bestimmen.
- Die besten Heilungschancen haben diejenigen Personen, die nicht dem allgemeinen Klischee entsprechen und von außen nicht als Alkoholiker wahrgenommen werden. Manchmal erkennen sogar ihre Angehörigen und ihre Ärzte den Alkoholismus nicht.
Diese Analyse erlaubt mir, die Behandlung meines jetzigen Patientenstammes und all der Patienten die noch kommen werden besser zu gestalten.
- Fehlende persönliche Motivation.
- Hohes Ausmaß gleichzeitiger psychischer Probleme.
- Psychischer und physischer Niedergang.
- Massiver Alkoholmissbrauch bei Konfliktsituationen im persönlichen Umfeld.
- Der Umstand, dass Alkohol immer noch als das beste Mittel zur Angstlösung empfunden wird.
- Die Furcht vor Nebenwirkungen oder „abhängig“ von einem Medikament zu werden, welches nach unseren bisherigen Erkenntnissen lebenslang eingenommen werden muss.
- Nostalgische Rausch-Erinnerungen, speziell bei jüngeren Patienten.
Zurzeit untersuche ich die Möglichkeiten, mit den rückfälligen Patienten, welche eine weitere Behandlung wünschen, dennoch ein positives Resultat zu erreichen. Es zielt darauf ab, auch ohne Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol den Konsum zu verringern.
Am Anfang hatte ich versucht, die Dosis zu erhöhen, in der Hoffnung die Schwelle zur Genesung zu treffen. Aber dies ließ mir auch keine Ruhe…. Und ich fürchtete die Konsequenzen. Alkohol + Baclofen in hohen Dosierungen = Gefahr. Eine dieser Personen (mehr als 300 mg) ist übrigens am Lenkrad eingeschlafen. Glücklicherweise ohne dramatische Konsequenzen.
Andererseits schien es mir auch nicht zweckdienlich, von den Patienten die Hinnahme von für sie wirklich beeinträchtigenden Nebenwirkungen zu erwarten. Ich gebe ihnen immer den Rat, ein oder zwei Stufen bis zu einer komfortableren Dosis zu reduzieren. Danach können sie die Dosis vorsichtig wieder steigern. Dazu anmerken muss ich, dass Personen mit 300 mg und mehr oft frei von Nebenwirkungen sind. Schier unglaublich. Andererseits gibt es Patienten, die bereits 20 oder 40 mg sehr stört und es vorziehen, auf die Behandlung zu verzichten!
In solchen Situationen, wenn die chemische Behandlung nicht anspricht, wende ich mich der psychischen Seite zu, nicht aber, ohne die Baclofen-Dosis weiter zu erhöhen. Ich habe mich dabei an die Erkenntnis herangetastet, dass die medikamentöse Behandlung zunächst wichtiger ist als die klassisch psychotherapeutische und auf ersteres konzentriere ich mich. Ich verschiebe die psychologische „Arbeit“ auf später. Solange die Person trinkt, ist diese Arbeit schwierig und ohne Einfluss auf das Trinkverhalten.
Drei hauptsächliche Elemente müssen, meiner Meinung nach, bei erfolglosen Behandlungen unter dem Strich genannt werden:
Ich wende Methoden an, welche aus der PNL (Programmation Neuro-Linguistique) und der AT (Analyse Transactionnelle) hervorgehen, deren Resultate mir vielversprechend erscheinen. Ich habe mit Kollegen, PNL-Psychotherapeuten (Nichtmediziner) eine Untersuchung zur Anwendung der PNL auf Suchterkrankungen begonnen. Wir testen die Verfahrensweise an freiwilligen Patienten. Angemerkt sei, dass ich diese Untersuchung begonnen habe, bevor ich Baclofen kannte. Ich wende mich nicht gegen das eine oder das andere, gegen chemische oder gegen psychotherapeutische Behandlung, ich vereine sie.
- Das Fehlen eines festen „Entschlusses“, dem Alkohol und dessen psychotropen Wirkung zu entsagen.
- Mit dem Alkohol verbundene Gewohnheiten und Rituale.
- Die Flucht in den Alkohol um Lebensproblemen und Stress zu begegnen.
Eine andere Option ist die klinische. Am Anfang meiner Arbeit mit Baclofen stand ich vor Situationen mit Patienten, die Rückfälle erlitten oder dem Behandlungsplan nicht folgten. Ich zog eine klinische Einweisung in Erwägung in der Hoffnung, dass die Einnahme des Medikamentes in einer geschützten Umgebung die erhoffte Wirkung erziele. Ich überwies mehrere Patienten in eine Pariser Klinik, in welcher Psychiater bereit waren, das Medikament in ausreichender Dosierung zu verschreiben. Indes, eine solche geschützte Umgebung, so notwendig sie für solche sein mag, die im Rausch ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel setzen, löst das Problem nicht. Mit oder ohne Baclofen erleiden die Kranken nach dem Verlassen der Klinik einen Rückfall.
Bleibt also nur die ambulatorische Begleitung und die Eigenverantwortung des Patienten für seine Therapie. Für die schwierigen Fälle ist der sicherste Weg die totale Abstinenz, wie ihn Olivier Ameisen in seinem Buch beschreibt. Um diese zu erreichen, gibt es verschiedene Mittel:
Auf speziellen Wunsch von Personen, welche Erfahrung mit Antabus hatten, habe ich begonnen, es gleichzeitig mit Baclofen zu verschreiben. Die Einnahme von Antabus, falls in den darauf folgenden Stunden Alkoholkonsum stattfindet, ruft äußerst unangenehme und abschreckende Wirkungen hervor. Ich warte noch auf die Ergebnisse ...
Mehrere Patienten haben sich für die totale Abstinenz entschieden und besuchen die Versammlungen von Selbsthilfegruppen wie das „Blaue Kreuz“ oder die „Anonyme Alkoholiker“.
Die häusliche Betreuung durch einen Angehörigen, der die Einnahme des Medikaments überwacht, dafür sorgt, dass kein Alkohol ins Haus kommt und den Patienten moralisch unterstützt, hat dafür gesorgt, dass es zwei Patienten gut geht.
Einige medizinische Befunde konnte ich weder einschätzen noch behandeln. Derzeit arbeite ich mit einer ebenfalls Baclofen verschreibenden Ärztin, Frau Dr. Françoise Faisandier, einer exzellenten Spezialistin für innere Medizin, zusammen. Ich greife auf sie zurück, wenn unangenehme Nebenwirkungen einfach nicht verschwinden. Recht oft kommt das von einer schlechten Verteilung der Tagesdosis oder von Nebenwirkungen anderer verschreibungspflichtiger Medikamente. Viele Alkoholkranke erhalten zusätzlich Antidepressiva, Beruhigungs-, Schlafmittel oder Medikamente gegen andere Erkrankungen.
Bei denjenigen, die trotz ausbleibenden Erfolges willens sind, die Therapie fort zu setzen, liegt die Hauptursache für das Scheitern bei gleichzeitigen psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Bipolaren- oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Alkoholismus und Drogensucht gehören bei ihnen zum Symptom-Spektrum. Ich habe festgestellt, dass es bei Bipolarität und Absetzen des Alkohols zu ernsthaften depressiven Zuständen kommen kann. Bei Borderline-Patienten habe ich massiven Überkonsum angetroffen. Es sollte damit ein veränderter Bewusstseinszustand herbeigeführt werden, mal mit oder ohne gleichzeitigen Konsum von Benzodiazepinen und Alkohol!
Für solche Patienten fühle ich mich als Psychotherapeutin mit eigener Praxis nicht geeignet. Ich ziehe es dann vor, sie an einen in Alkoholfragen erfahrenen Psychiatrischen Dienst, welcher ebenfalls Baclofen verschreibt, zu überweisen.
Dr. Annie Rapp, Psychotherapeutin, 28.09.2011
(*) Heute sind es 180 Patienten
Uff! Erst mal durchatmen.
Die Erfolgsquote von 75 % ist etwas - na ja - kreativ. Eigentlich sind es ja erst mal „nur“ 37,5 %. An sich ist ja auch das schon sehr respektabel. Gewiss wird man auch einige Personen ihrer Kategorie 2 und warum eigentlich nicht (?) auch ihrer Kategorie 3 hinzuzählen können. Aber erst mal lieber so als Fabelmeldungen von 93,3 %
So, jetzt aber Schluss mit Zahlenhuberei, das bringt ja eh nix. Bringen tut`s nur die Erkenntnis, dass man`s ernsthaft angehen und dran bleiben muss.
DonQuixote
Edit 1: Kleiner Übersetzungsfehler ausgemerzt.
Edit 2: Downloadlink hinzugefügt. Hier geht’s lang …