Damit komme ich zum weitaus schwierigsten Teil, dem
Teil 3: HeilungWieso ist dieser Teil schwierig?
Krankheit -> Heilung -> Gesundheit.
Was soll daran schwierig sein? So lange wir Heilung als Prozess und nicht als Momentaufnahme betrachten, ist das doch eigentlich kein Ding?
Haben wir
oben bei der wissenschaftlichen Methodik schon das Problem, dass wir jedes einzelne Kriterium irgendwie definieren müssen, bevor wir es messen können, geht jetzt der Spaß mit der Definiererei erst richtig los.
Papfl "reingepfriemelt" hat geschrieben:Anhand Deines zweiten Teils ("Wissenschaftliche Methodik" ) wird deutlich, wie sehr die Frage "Einmal Alki - immer Alki?" davon abhängt, wie "Abhängigkeit", "Sucht", "Alkoholismus" (egal wie man's nennt) definiert wird.
Du definierst (wie übrigens die meisten Mediziner, Therapeuten, Kliniken etc. auf der Welt) Abhängigkeit nach den offiziellen Klassifikationssystemen, also ICD-10 resp. DSM-IV resp. WHO.
Ich persönlich definiere Alkoholabhängigkeit noch anders (Stichwort: Trink
wunsch vs. Craving), das tut hier aber nichts zur Sache. Ich muss, um
irgendeine Methodik anwenden zu können, aber auch
irgendwie definieren, wie @Papfl
hier richtig anspricht. Um messen zu können, ob ein Zimmer "warm" oder "kalt" ist, muss ich Kriterien für warm und kalt definieren. Hilft nix. Dass dabei 19°C Zimmertemperatur für einen Inuit unter "Gluthitze" läuft, für einen Sudanesen unter "unangenehm kühl", ist dabei nicht die Frage.
Und da bediene ich mich an dieser Stelle der Einfachhalt halber der ICD-Systematik.
Zunächst gilt, dass es zu unterscheidende Arten der Heilung gibt. Erstes Problem: welche davon betrachten wir hier?
Da ist einmal die vollständige Wiederherstellung des Ausgangszustandes, das wäre das, was oben in dem stark vereinfachten Dreisprung gemeint ist. Schnupfen -> zwei Wochen warten -> kein Schnupfen mehr. Der Patient ist wieder genau so, wie er vor dem Schnupfen war. In der Medizin heißt das: restitutio ad integrum
Es gibt aber eine zweite Form der Heilung, die nicht wieder zum Ausgangszustand zurückführt. Einfaches Beispiel:
Wunde -> Heilung -> Narbe. In diesem Fall spricht man von reparatio.
Und das, was uns eigentlich interessiert (glaube ich jedenfalls, wobei man sich auch über die Reparatio mal Gedanken machen könnte...), ist die Remission: die wiederum ist eigentlich gar keine Heilung, sondern das "temporäre oder dauerhafte Nachlassen von Krankheitssymptomen körperlicher bzw. psychischer Natur, jedoch ohne Erreichen der Genesung".
(Wikipedia). So, also gar keine Genesung? Na, dann ist doch alles klar: Heilung von der Alkoholabhängigkeit ist mit dieser Definition von Heilung doch nicht möglich.
Schön, wenn es denn so einfach wäre. Es gibt auch eine „komplette Remission“. Sie bezeichnet „den Status, in dem (zum Beispiel nach erfolgter Therapie) weder klinische, radiologische noch sonstige Zeichen der Krankheit über einen bestimmten Zeitraum (z. B. 6 Monate) vorliegen“.
(nochmal Wikipedia) So, und nun? Welche Definition von „Heilung“ hätten’s denn gern?
Die meisten psychischen Erkrankungen werden als nicht vollständig heilbar im Sinne der Wiederherstellung des Ausgangszustandes verstanden. Das ist auch logisch, weil erstens psychische Erkrankungen in der Regel sehr komplex sind ("multideterminierte Bedingtheit", besser eigentlich wäre "multikausale Bedingtheit, denn tatsächlich determiniert ist da auch nicht viel) und zweitens sehr oft der eigentliche Auslöser gar nicht beseitigt werden kann.
Behandele ich ein Gewaltopfer, kann ich zwar alle möglichen Therapien und Hilfen dazu anbieten, den Überfall ungeschehen machen kann ich aber nicht. Er wird immer „Narbe“ bleiben. Dennoch gelten viele psychische Erkrankungen als bis zur kompletten Remission therapierbar.
Und da kommen wir zum nächsten Problem: Ist Alkoholabhängigkeit denn nun eine psychische Erkrankung?
Oder ist sie eine biologisch bedingte, gabaerge Mangelerscheinung?
Da können wir schon lang und völlig ergebnisbefreit drüber streiten.
Am ehesten anzunehmen ist wohl eine Mischform: biologische, aber auch psychische Bedingtheit.
Welchen Anteil hat die biologische, welchen die psychische Komponente? Und: kann man das überhaupt trennen? Schließlich ist alles psychische letztlich ja auch biologisch korreliert.
Bereits an dieser Stelle haben wir also einen ganzen Rucksack voller Definitionsprobleme. Und, da das alles niemand wirklich allgemeingültig festlegen kann, erfolgt die Definition der Heilung oder Nichtheilung von der Alkoholabhängigkeit, wie immer sie aussehen mag, stets willkürlich.
Es dürfte weitgehend Einigkeit darüber herrschen, dass nicht alle Alkoholabhängigen im Laufe ihres Lebens geheilt werden können, woran das nun im Einzelfall auch immer liegen mag.
Letztlich wird jede Untersuchung der Heilbarkeit also auf Wahrscheinlichkeitshypothesen zulaufen, damit ist der Falsifikationismus, wie ich ihn oben erklärt habe, schon in schwerer See.
Ich nehme nochmal den Versuchsaufbau von
oben:
für alle VPN x gelte: x ≠ ICD10.2 in t0 v t1
für alle VPN y gelte: y = ICD10.2 in t0 v t1
für alle VPN z gelte: z = ICD10.2 in t0 v z ≠ ICD10.2 in t1
Zu testende Hypothesen für t= t1, t2,...tn:
H0 = P(ztn = ytn) > P(ztn = zt1)
H1 = P(ztn = zt1) > P(ztn = ytn)
Hier hagelt es also Wahrscheinlichkeiten.
Die Nullhypothese besagt hier, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teilnehmer aus z (“ehemaliger Abhängiger“) zum Messzeitpunkt n wieder der Gruppe y („Abhängiger“) angehört höher ist, als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teilnehmer aus z ("ehemals Abhängiger") zum Messzeitpunkt n immer noch der Gruppe z ("ehemals Abhängiger") angehört.
Die Gegenhypothese H1 besagt logischerweise das Gegenteil.
So weit, so schön.
Was ist denn aber nun mit x?
Besteht nicht auch eine grundsätzliche Wahrscheinlichkeit, dass ein Teilnehmer aus x (“nie abhängig gewesen“) am Ende der Messung abhängig trinkt, also in ytn gehört? Klar gibt es diese Wahrscheinlichkeit, das ist trivial.
Das ist das fiese am Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten. Für den Einzelnen sagen sie konkret gar nichts aus. Und darin liegt mutmaßlich die Attraktivität von Aussagen wie „Einmal Alki – immer Alki!“. Da kann man einfach schön mit arbeiten.
„Ein Alkoholiker hat gegenüber einem Nichtalkoholiker eine um p=0,3 (Achtung: Phantasiezahl, nur zur Veranschaulichung!!) erhöhte Wahrscheinlichkeit, wieder abhängig zu trinken, auch dann, wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt die Abhängigkeitskriterien nicht mehr erfüllte?“ Wer soll damit etws afangen?
Für die Fragestellung dieses Threads ist genau das aber irrelevant. Dass hau-ruck-Formeln wie das „Einmal-Alki-immer -Alki-Paradigma“ (Heuristik) ihre lebenspraktischen Vorteile haben, ist ja unbestritten. Die suche ich hier aber nicht. Hier geht es um Beweise, Watson, Beweise.
Und was ich nicht verstehe, ist, dass in
140 Jahren scheinbar niemand mal auf die Idee gekommen ist,
H0 = P(ztn = ytn) > P(ztn = zt1)
H1 = P(ztn = zt1) > P(ztn = ytn)
zu überprüfen. Das wäre ohne weiteres machbar.
Natürlich käme da keine Faustformel wie „Einmal Alki – immer Alki!“ bei raus. Das ist, denke ich jedem, der nicht nur mit dem Sitzmuskel denkt, klar. Auch das Gegenteil „Bisher nicht Alki – niemals Alki!“ ist offenkundiger Schwachsinn. Aber es wäre doch mal spannend zu wissen, ob, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, das Riskio, Alkohol zu konsumieren, für Menschen, die einmal abhängig diagnostiziert wurden,
tatsächlich höher ist als für die Menschen (hier: Gruppe x), die bisher nicht alkoholabhängig diagnostiziert wurden.
(Hier kommt nämlich wieder so ein Definitionsding: wenn ich, als einmal 10.2 Diagnostizierter, ein Bier trinke, ist es ein Rückfall. Wenn mein 16-jähriger Sohn nächsten Sonntag mit seinen Kommilitonen auf dem Weihnachtsmarkt ein Bier trinkt, ist es ein Bier?)
Und wenn dabei 'rauskäme, dass ehemals Abhängige ein höheres Rückfallrisiko als Nichtabhängige ein „Fall"-Risiko (sozusagen) haben, dann wäre doch schon was gewonnen.
Natürlich muss man da irgendwie in die Definitionstretmühle und natürlich wird man über die Definitionen trefflich streiten können. Das ist in Millionen anderer wissenschaftlicher Untersuchungen aber nicht anders (man denke z.B. an das unter Eltern heiß diskutierte Impfrisiko vs. Masernrisiko).
Warum reite ich so auf dieser Heilungskiste rum? Steckenpferd? Nix besseres zu tun?
Nein, es gibt, neben der reinen wissenschaftlichen Neugier, einen Grund, und da verweise ich nochmal auf @Praxx/DoctorBAC:
Praxx hat geschrieben:Ist doch erstaunlich, dass 40% der Menschen weniger trinken, bloß weil sie glauben, wieder Kontrolle darüber haben zu dürfen!
von hierDas bezog sich auf die Zulassungsstudien von Selincro®, in denen die Medikation von psychosozialer Betreuung flankiert wurde und bei denen die Placebo-Gruppe einen ansehnlichen Rückgang der Trinkmenge zu verzeichnen hatte, der sich kaum von der Selincro®-Gruppe unterschied.
Und das ist halt genau mein Punkt: gebe ich mich mit der Unheilbarkeit zufrieden, dann liefere ich mich gleichzeitig meiner Hilflosigkeit dem Alkohol gegenüber aus. Wenn ich „weiß“, dass ein Glas Bier mich unweigerlich in die Abhängigkeit zurückführt und ich nehme es trotzdem in die Hand, dann habe ich keinen einzigen Grund mehr, nach dem ersten Glas zu stoppen.
Gehe ich dagegen von einer guten Heilungschance aus, gehe ich ganz persönlich die Krankheit ganz anders an. Und verbessere damit wiederum meine Heilungschancen.
Self fulfilling prophecy.
Die darf man in beide Richtungen nutzen.
LG
Willo