Dosis-Sprünge

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Papfl
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Dosis-Sprünge

Beitragvon Papfl » 15. April 2013, 15:12

@ all

Die "richtige" Dosierung von Baclofen ist immer wieder Thema - nicht nur im Forum. Dass die niedergelassenen Ärzte keine "verbindlichen" Anhaltspunkte haben, wie und in welchen Mengen Baclofen gegen Alkoholabhängigkeit eingenommen werden soll, ist auch ein Hauptgrund dafür, dass viele von ihnen die "Off-Label-Verschreibung" immer noch ablehnen.

Und wir machen es den Ärzten, die eventuell hier die Erfahrungsberichte mitlesen, auch nicht gerade leichter. Die Dosierung soll (inter)individuell verschieden sein, manche kommen mit sehr geringen Mengen aus, andere wiederum liegen bei weit über 100 mg pro Tag oder experimentieren sich sogar "Ameisen-like" fast an die 300 mg heran...dann wird hin- und herdosiert, mal rauf, mal runter, mal gar nicht...wer soll da noch durchblicken [wacko] .

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich's auch nicht so richtig verstehe...ist die Dosierung denn wirklich so schwer? Oder nimmt gelegentlich die "Neugier" oder die "Lust am Rumprobieren" überhand?

Was spricht denn dagegen, wenn man ganz normal nach Schema (Leitfaden Arztkoffer) langsam aufdosiert. Dann, wenn unangenehme Nebenwirkungen auftauchen, bei der aktuellen Dosierung verweilt (etwa eine Woche länger) und schaut, ob die Nebenwirkungen verschwinden. Sind sie weg, geht man langsam wieder höher. Treten erneut Nebenwirkungen auf, wird das Prozedere (eine Woche länger innehalten) wiederholt. Irgendwann erreicht man dann eine Stufe (die ist wirklich individuell), bei der die unangenehmen Nebenwirkungen auch nach der zusätzlichen Woche nicht mehr verschwinden oder man sogar in den "Zombie-Status" verfällt. Dann ist klar: Hier ist's zu viel. Dann geht man zurück auf die letzte Dosis, bei der die Baclofeneinnahme (gerade) noch verträglich war. Und hält diese bei! Über Monate (oder vielleicht sogar Jahre) hinweg.

Es leuchtet mir nicht ein, warum manche dann nach ein, zwei Monaten plötzlich wieder ausprobieren, ob's nicht auch mit weniger oder mit gar nichts geht. Klappt natürlich (meistens) nicht. Dann wird wieder von vorn angefangen, aber diesmal wird höher gegangen, weil es ja vorher vermeintlich zu wenig war...das verträgt man dann nicht...Resignation, Verzweiflung...und schuld ist am Ende immer Baclofen.

Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass Baclofen gegen den "Suchtdruck" (physisches Craving) immer hilft, wenn man sich an das oben skizzierte Dosierungsschema hält (die identifizierten 15%, die generell nicht auf Baclofen ansprechen, natürlich ausgenommen). Der "Trinkwunsch" (psychisches Craving) steht auf einem anderen Blatt. Die jeweilige Obergrenze der Verträglichkeit ist natürlich individuell verschieden. Manchen fallen bei 30 mg/Tag schon die Augen zu, andere verspüren bei 150 mg/Tag noch gar keine Wirkung.

Ich kann mir vorstellen, dass einige im Forum den von mir beschriebenen Weg gegangen sind, ihre persönliche Individualdosis gefunden haben, diese ganz selbstverständlich und regelmäßig Tag für Tag einnehmen, nicht rumexperimentieren und prima zurecht kommen. Vielleicht schreiben sie aus diesem Grund auch nicht mehr so häufig, weil sie ihr Leben längst wieder auf die Reihe gekriegt haben.

Aber gerade so ein Feedback wäre wichtig. Wenn wir den Ärzten die Information mitgeben könnten, dass ein Schema wie das obige in der Vergangenheit erfolgreich gewesen ist, wäre ihnen und der Verschreibung von Baclofen schon ein ganzes Stück weit geholfen.

Man muss dem Medikament auch eine Chance geben, sich zu entfalten. Das kann es nicht, wenn ständig in der Dosierung hin- und her gesprungen wird. Die meisten von uns haben durch jahrelangen (oder gar jahrzehntelangen) Alkoholkonsum ihre Rezeptoren und Neurotransmitter komplett durcheinander gewirbelt und massive Schäden im natürlichen Stoffwechsel verursacht...hier für die Regeneration mindestens ein bis zwei Jahre unter gleich bleibenden Bedingungen zu veranschlagen, ist m. E. nicht zu viel verlangt.

Papfl
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WilloTse
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Re: Dosis-Sprünge

Beitragvon WilloTse » 16. April 2013, 08:05

Hi Papfl & all,
Papfl hat geschrieben:Oder nimmt gelegentlich die "Neugier" oder die "Lust am Rumprobieren" überhand?

Ich sehe auffällige Parallelen zur Suchtentstehung.
Man muss, um mit dem Dosierungsschema erfolgreich zu arbeiten:

- Vertrauen in ein Medikament entwickeln, das einerseits spürbar in die Hirnchemie eingreift und andererseits nicht für diese Anwendung zugelassen ist
- Vertrauen in sich selbst entwickeln, dass man die für einen selbst richtige Dosis finden wird
- Geduld mit sich und mit den oft bei jeder Dosisänderung auftretenden Nebenwirkungen haben
- sich vollständig von einem oft seit Jahrzehnten präsenten Denkmuster der abrupten Totalabstinenz verabschieden
- einsehen, dass der biologische Anteil der Sucht stärker ist als bisher angenommen, möglicherweise nie vollständig zu beheben und rein psychisch nie zu kontrollieren sein wird
- die Angst hinter sich lassen, sich und sein Umfeld wieder einmal selbst zu belügen, sich an einen unsinnigen und oft auch noch den allerletzten Strohhalm zu klammern und irgendeinen Mist einzuwerfen, mit dem man ja angeblich nichtmal ganz abstinent sein muss.

Gleichzeitig vermittelt Baclofen oft nach der ersten Pille einen Wirkeindruck, das erste Glas wird tatsächlich mal stehen gelassen, das zweite auch. "Ich habe es unter Kontrolle!".
Da kommt dann Selbstüberschätzung ins Spiel, gefolgt vom beinahe zwingenden Aufprall in der Realität, "Hat ja doch alles keinen Zweck!" usw.

Wir haben also die Faktoren
- Angst
- fehlendes Selbstvertrauen
- fehlendes Fremdvertrauen
- temporäre Selbstüberschätzung
- fehlende Krankheitseinsicht (i.S.v.: fehlende Einsicht in die Wirkmechanismen der Krankheit)
- Ungeduld

gepaart mit der Notwendigkeit, eine Individualdosis irgendwo zwischen 5 und 500 mg/d zu finden, auf die Nebenwirkungen zu achten ohne gleichzeitig Baclofen jedes Zipperlein anzulasten, den (hoffentlich) begleitenden Arzt und das skeptische Umfeld mit hinreichend guten Erfolgen bei Laune zu halten und dann endlich die bereits gelernten oder noch zu lernenden psychologischen Werkzeuge tatsächlich anzuwenden. Das alles mehr oder minder in Eigenregie.

Mal ehrlich: das ist starker Tobak.

Wir brauchen an dieser Stelle - auch, wenn Du in der Sache vollkommen Recht hast - mitlesende (besser mitschreibende) Ärzte, die aber einen verständnisvollen Blick auf die Gesamtproblematik haben. Und diese Gesamtproblematik beinhaltet eben auch diese JoJo - Erfahrungen.

Papfl hat geschrieben:Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass Baclofen gegen den "Suchtdruck" (physisches Craving) immer hilft, wenn man sich an das oben skizzierte Dosierungsschema hält (die identifizierten 15%, die generell nicht auf Baclofen ansprechen, natürlich ausgenommen).

Ich möchte sogar noch ein bisschen weitergehen und behaupte: wenn der biologische Anteil der Sucht erstmal wirklich unter baclofener Kontrolle ist, ist der verbleibende psychologische Rest halb so wild. Denn was in unserem Leben falsch läuft und wie wir es gerade rücken könnten, wissen wohl die meisten von uns.

Nur umsetzen können wir es erst, wenn die Wogen sich geglättet haben. Der Weg dahin ist und bleibt aber für die meisten steinig.

LG
Willo

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DonQuixote
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Re: Dosis-Sprünge

Beitragvon DonQuixote » 16. April 2013, 18:00

Tolle Postings, Papfl & Willo !

Papfl hat geschrieben:Treten erneut Nebenwirkungen auf, wird das Prozedere (eine Woche länger innehalten) wiederholt.

Statt nur eine Woche innezuhalten, können das ruhig auch mal mehrere Wochen sein.

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GoldenTulip
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Re: Dosis-Sprünge

Beitragvon GoldenTulip » 17. April 2013, 12:44

Hi@all, papfl

Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass Baclofen gegen den "Suchtdruck" (physisches Craving) immer hilft, wenn man sich an das oben skizzierte Dosierungsschema hält (die identifizierten 15%, die generell nicht auf Baclofen ansprechen, natürlich ausgenommen). Der "Trinkwunsch" (psychisches Craving) steht auf einem anderen Blatt.


Sobald man sich hinsichtlich der eigenen Absicht im Klaren ist, funktioniert das glaube ich ganz gut. Da sind dann Erfahrungswerte wie Königsweg, GGG, der Blick auf den eigenen Verlauf sehr hilfreich.

Solange aber im Halbfinale "Trinkwunsch" gegen "bessere Lebensperspektive" spielt, darf man sich auf den einen oder anderen Konter einstellen.
Ich bin überhaupt nicht gegen Planung, Geduld und auch mathematische Formeln eingestellt, die aufzeigen, wo Gaba A Gaba B nicht wirksam werden lässt.

Nur was nützt es alles ohne Absicht? Die Hammermethode: Aufdosierung bis zum Verlust derselben (Trinkabsicht) ist eine Möglichkeit. Das heißt dann medizinisch, das das Belohnungssystem zwangs-umgestellt wird, oder täusche ich mich?

Nur- was macht der arme Wirkungstrinker, wenn die Wirkungs ausbleibt? Die psychische Strukturveränderung aber hoffnungslos hinterher trinkt, äh, hinkt?
Genau: Rumhampeln. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Dann hat man aus beiden "Eigenmedikationen" nur noch mit den unerwünschten Nebenwirkungen zu tun. Die man dann noch fleißig spiralförmig zu bekämpfen sucht.

Über diese Prozesse gehen locker mal 2-5 Jahre ins Land (Bin Optimistin [twiddle] )

Zurück:
Bei mir hat sich mein Trinkverhalten egal mit welcher Bac-Dosierung nur minimal verändert. Die Trigger blieben die gleichen. Die Probleme, die sich aus der Bac-Einnahme ergaben kamen (sozial) noch dazu.

Mir ist aktuell das Baclofen ausgegangen, und ich schaue mal, was passiert, ohne dass ich das nehme. Nach zwei Jahren bekomme ich da neue Informationen, schätze ich.

Vielleicht kann ich ja sogar damit leben, dass ich alkoholabhängig bin - wenn ich im Rahmen bleibe. Vodka-Exzesse darf ich mir keine leisten, mit 3 Halben am Abend oder 3-5 Gläsern Sekt kann ich leben.

Das hat nichts mit "kontrolliertem Trinken" zu tun, sondern ist der Versuch, die Kirche im Dorf zu lassen. Dann ist das eben so. "Aber ist die Wäsche auch wirklich sauber geworden?"

Da muss die Clementine allein mit fertig werden. Not my way out.

Ich wurde und werde so derbe in eigene biographische Zusammenhänge zurückgeschmissen, dass mich das viel Kraft kostet. Ich versuche mich so gut es geht, dort auseinanderzusetzen, ohne Abstinenzversprechen. Ein bisschen bewusster als vor Baclofen. Der Rest wird sich zeigen.

----

Noch mal On Topic:

Gäbe es eine verlässliche Guideline, mit Baclofen aus dem Alkoholismus rauszukommen, wäre eine große Vertrauensbasis das sine qua non. Ich für meinen Teil habe immer getrunken, weil mir dieser Raum sicherer schien, als soziale Beziehungen. Der Widerstand ist ja groß, sich was sagen zu lassen. Wenn dann dieses Vertrauen missbraucht wird und Willkür einzieht, ist der Drops gelutscht.
Ich lass mich lieber vom Alkohol aus der Spur werfen, als von Menschen. Da weiß ich, was ich hab.

Conny
Siegreiche Krieger siegen bevor sie in den Krieg ziehen, während Verlierer erst in den Krieg ziehen und dann versuchen, zu gewinnen. Sunzi.
Wenn Du nichts tun kannst, tu, was Du tun kannst. Conny.

In respektvollem Gedenken an Aaron Swartz http://de.wikipedia.org/wiki/Aaron_Swartz


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