4. Diskussion (Seite 221)
Derzeit gibt es kein Medikament, mit welchem man pathologischen Alkoholismus erfolgreich und nachhaltig behandeln kann. Es ist deshalb nützlich, alle therapeutischen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und keine Option außer Acht zu lassen, insbesondere angesichts der zahlreichen Rückfälle im ersten Jahr der Abstinenz und dies trotz abstinenzerhaltenden therapeutischen Maßnahmen.
4.1 Zweck und Ziele (Seite 221)
Ziel und Zweck dieser beschreibenden und qualitativen Untersuchung war, den Patienten und seine Gefühle angesichts der Baclofen-Therapie ins Zentrum des Interesses zu rücken und für jeden einzelnen ein Profil seiner Reaktionen bezogen auf seine jeweilige Sucht zu erstellen. Einige häufig anzutreffende Charakteristika gehen daraus hervor:
Reduktion des Craving: Dies ist offensichtlich der wichtigste Faktor. Eine sehr große Mehrheit der befragten Patienten berichtet von einer markanten Reduktion des Craving, manchmal gar von einer totalen Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol. Dieses Phänomen erscheint auch vielversprechend hinsichtlich Opiate, wenngleich die Antworten dort mehr auseinander gehen.
Einige Fälle sind in der Tat spektakulär, besonders wenn man ihre Vergangenheit mit zahlreichen Rückfällen, und dies trotz hoher Motivation und verschiedensten Behandlungen darunter auch Psychotherapien, berücksichtigt. Abgesehen von Hr. C., er vertrug das Medikament schlecht, und Hr. K., welcher in der Therapie einen nicht dafür vorgesehenen Nutzen suchte, beschrieben alle anderen eine deutliche Reduzierung unterschiedlicher Intensität. Das beinhaltete totale Gleichgültigkeit (Hr. A., Hr. E.), Verringerung des Ausmaßes, welche mit einer gewissen Anstrengung totale Abstinenz erlaubte (Hr. D., Hr. G., Hr. J., Frau H.) oder kontrollierter Konsum (Fr. B., Fr. F., Hr. I., Hr. L., Hr. M.). Dieser Anti-Craving Effekt wurde sehr gut illustriert, als zweifelnde Patienten riskante Versuche zur Feststellung der Wirksamkeit von Baclofen unternahmen: Die Herren A. und E. wollten beobachten, ob der willentliche Konsum von Alkohol zu einem Rückfall führt. Der Rückfall blieb aus. Anders bei Hr. A., der die Behandlung vorzeitig abbrach, daraufhin aber sofort wieder aufnahm.
So waren denn alle diese Patientengespräche aufwühlend, manchmal erschütternd: Die Patienten beschreiben einen reellen Nutzen, welcher ihnen eine Veränderung ihrer Lebensumstände erlaubte, ihres Verhaltens, oder gar ein tiefes Reflektieren ihrer selbst nach Jahren des Misserfolgs. Alle verglichen spontan die Wirkung von Baclofen mit der Mittelmäßigkeit anderer Behandlungen und zeigten sich erstaunt über die diesbezügliche Trägheit der Pharmaindustrie und der zuständigen Behörden hinsichtlich der weiteren Entwicklung und der erweiterten Marktzulassung von Baclofen.
Kontrollierter Konsum: Selbst wenn das Craving nur teilweise reduziert war, erkannten die Patienten dennoch die Möglichkeit, ihr Trinkverhalten mehr und bewusst zu kontrollieren und ihr Sozialverhalten zu stabilisieren. Sie widerstanden dem, was „Craving-Schüben“ zu sein scheint, hervorgerufen durch zeitweise psychische Faktoren oder durch Umwelteinflüsse. Daraus könnte ein neues Konzept hervorgehen: Abstinenz wäre dann nicht mehr erforderlich um alle mit dem Alkoholismus einhergehenden Probleme zu lösen.
Wir haben in den Fällen von Fr. B., Fr. F., Hr. I., Hr. L. und Hr. M eine Wandlung ihrer Sucht hin zu einem kontrollierten Konsum gesehen. Einige wünschen und erlauben sich in der Tat von Zeit zu Zeit einen „leichten“ Alkoholrausch oder ein „Flash“ mit Opiaten, das Vergnügen des Enthemmt-Seins, um sich von Zwängen oder obsessiven Gedanken zu befreien, welche oft unterschwellig bei Angst- oder Depressions-Syndromen vorhanden sind. Dies jedoch immer mit einer „vertretbaren“ Perspektive, welche die Abhängigkeit von jeglichem Suchstoff vermeidet. Dieses Verhalten mag riskant erscheinen, erlaubt jedoch auf lange Sicht einen deutlich geringeren und für den Organismus weniger schädlichen Konsum, eine Distanz zur Sucht unter Beibehaltung der „positiven Effekte“ der Substanz. Hr. M. zum Beispiel konsumiert gelegentlichen Opiat zum Vergnügen, als „Belohnung“ für seine globale Veränderung und nimmt die Substanz nicht mehr als eine Notwendigkeit, als eine Unterwerfung, sondern als „kleines Vergnügen“ wahr, wie er meint.
Angstlösende und stabilisierende Effekte, Muskelentspannung: Der angstlösende Effekt von Baclofen ist der am meisten anzutreffende. Alle Patienten berichten von einer Beruhigung, von einer Stimmungsverbesserung, einige gar von einer antidepressiven Wirkung. Diese Verbesserung des Wohlbefindens ist im Allgemeinen begleitet von einer Muskelentspannung, letztere ein bekannter und zu erwartender Effekt, entspricht er doch dem Wirkungs-Muster des Medikaments für seine eigentliche Markt-Zulassung.
Hr. E., dessen Fall an denjenigen von Dr. Ameisen erinnert, berichtet von einer großen Verbesserung seiner unterschwelligen Angstzustände und dem völligen Verschwinden von Muskelverkrampfungen. Alle Patienten berichten von einer Verbesserung der Angstzustände, welche oft im Kontext mit Abhängigkeit einhergehen. (Festzuhalten ist, dass Fr. B von keinen Angstzuständen berichtet und dass Frau F. Alkohol als besseres angstlösendes Mittel empfindet).
Die Mehrheit der Patienten, Hr. A., Hr. E. und Fr. H. drücken das am klarsten aus, beschreibt eine globale Stimmungs-Stabilisierung, sozusagen „lithium like“, eine bessere Kontrolle ihrer Emotionen und verbesserte Konzentrationsfähigkeit.
Einer der Beweise für eine angstlösende Wirkung von Baclofen ist der verringerte Konsum von Benzodiazepinen bei gewissen Patienten (Hr. E., Hr. G. und Hr. K.).
Profil der Patienten:Der Angstlösende Effekt des Wirkstoffes erlaubt das Zeichnen eines Profils von Patienten, welche besser auf die Behandlung ansprechen. Tatsächlich weisen alle „guten Ansprecher“ eine bedeutende Angststörung auf, die sie oft seit langem oder gar seit ihrer Kindheit behinderten, oft kam es zu eigentlichen Angst-Krisen. Diese Angst-Zustände, oft Ursache einer Abhängigkeit, von welcher Substanz das auch sein möge, sind offenbar ein Schlüssel-Element bei der Behandlung von Alkohol-Abhängigkeit. So werden die angstbehafteten Patienten tendenziell am besten durch Baclofen unterstützt mit entsprechend besseren Resultaten hinsichtlich des Cravings. Wir könnten sogar noch weiter gehen und sagen, dass die weniger empfänglichen Patienten letztendlich diejenigen sind, welche zwar Angstzustände aufweisen, die jedoch auf ein schwerwiegenderes und unbehandeltes Depressives Syndrom oder auf andere psychische Probleme wie eine Bipolare Störung zurück zu führen sind. Patienten wie Fr F., Hr. K., Hr. I und Hr. M. weisen einen komplexeren psychischen Kontext und eine etwas fehlgeleitete Handhabung des Medikaments auf und bedürften sicherlich einer zusätzlichen psychiatrischen Begleitung, welche sie aber zum Teil ablehnen.
Dosisabhängige Wirkung, Erhaltungsdosis, minimale wirksame Dosis: Alle beschreiben eine progressive Anticraving-Wirkung proportional zur Dosis. Der Effekt steigt bis hin zur maximalen Wirkung, dem kompletten Verschwinden des Craving, der „totalen Gleichgültigkeit“ wie es einige Patienten beschreiben. Man sieht auch oft die Notwendigkeit, eine gewisse maximale Dosis zu überschreiten um einen „Klick“ zu verspüren bevor man dann langsam reduziert um die kleinste wirksame Dosis zu finden: Höher als dass Craving wieder eintreten und tiefer als dass kein weiterer positiver Effekt oder vermehrt unerwünschte Wirkungen mehr auftreten würden. Diese minimale wirksame Dosis, oft langfristig beibehalten, ist in der Regel deutlich geringer als die „Klick“-Dosis und lässt einen sich die Normalisierung der neuronalen Verbindungen vorstellen.
Die minimale wirksame Dosis ist von Patient zu Patient total verschieden und es ist auch schwierig, sie an anderen Faktoren fest zu machen, wie Gewicht / Geschlecht / Schwere der Abhängigkeit. Einzig das Gewicht scheint eine gewisse Rolle zu spielen.
Weil die Dosierungen für ein reelles Resultat so unterschiedlich sind (sie liegen oft über 200 mg/T), erscheint es mir paradox, bei Studien eine maximale Dosierung festzulegen und genauso verhält es sich bei den unerwünschten Wirkungen.
Hr. E, bei ihm ist die spektakulärste Verbesserung seines Zustandes von Allen zu verzeichnen, ist heute trotz sehr langer und schwerer Abhängigkeit abstinent, und oszilliert zwischen täglich 260 und 320 mg um eine totale Gleichgültigkeit gegenüber Alkohol zu erzielen. Man ist also sehr weit von der empfohlenen Obergrenze von 80 mg entfernt …! Angemerkt sei, dass, wenn man das Gewicht des Patienten (120 kg) berücksichtigt, dies einer Dosierung von ungefähr 2,5 mg/kg entspricht, also geringer als diejenige von Dr. Ameisen (3,6 mg/kg) und Dosierungen in Tierversuchen (manchmal 10 mg/kg). Im Gegensatz dazu reichen bei Hr. G. 40 mg/T (0,5 mg/kg) um eine Abstinenz zu erreichen, wenn auch mit einer gewissen Willensanstrengung.
Nebenwirkungen, oft minimal und vorübergehend (Schläfrigkeit, Schwindel,
Pollakisurie, Geschmacksveränderungen, Hörprobleme,
Parästhesie): Die große Mehrheit beschreibt unerwünschte Wirkungen zu Beginn der Behandlung oder bei sehr hohen Dosierungen, aber die meisten sind von vorübergehender und harmloser Natur. Für Schlafstörungen oder sexuelle Probleme ist es schwierig, Regeln zu definieren. Um unerwünschte Wirkungen, welche von der individuellen Verträglichkeit des Wirkstoffes abhängen, möglichst tief zu halten, soll die Dosierung bei Beginn der Behandlung und deren weiterem Verlauf kontinuierlich ansteigen. Patienten wie Hr. I. verspürten unerwünschte Wirkungen trotz langsamer Dosierungssteigerungen, während Personen wie Hr. J. eine gute Toleranz aufwiesen trotz sehr schneller Steigerung der Dosierung und dies bei vergleichbarem Körpergewicht.
Bei Andauern der unerwünschten Wirkungen erwiesen sich eine einfache Reduktion der Dosierung (z.B. bei Hr. L.) oder die Beigabe eines anderen Medikaments (z.B.
Olmifon® bei Hr. E.) als wirksam. Das Verhältnis von Nutzen / unerwünschten Wirkungen wird von den Patienten als sehr positiv eingeschätzt.
Wie bereits oben erwähnt, waren die Nebenwirkungen hier immer harmlos und deren Verarbeitung eine Sache der Wahl und der Motivation jedes Einzelnen. Anzumerken bleibt der Fall von Hr. C., bei dem sich seine Aggressionen in einem solchen Maß steigerten, dass die Behandlung abgebrochen werden musste. Danach normalisierte sich die Situation rasch.
Für
Acamprosat und
Naltrexon empfiehlt die Marktzulassung eine Behandlungsdauer von einem Jahr respektive drei Monaten bei fragwürdigen Resultaten und Toleranz. Hingegen, in den Fällen in denen sie wirksam sind, zieht deren Absetzung oft und sehr rasch einen Rückfall nach sich, was darauf hinweist, dass Alkoholismus eine chronische Krankheit bleibt welche einer wirksamen und langfristigen Behandlung bedarf.
Es wäre deshalb wichtig, über eine langfristig wirkende und gut tolerierte Hilfe zur Aufrechterhaltung der Abstinenz ohne hinderliche Konterindikationen (insbes. Leberschädigungen) zu verfügen wobei natürlich auch eine psychotherapeutische Begleitung erforderlich bleibt.
Divergierende, jedoch ermutigende Auswirkungen auf Opiate und anderes süchtiges Verhalten: Heroin- und kokainabhängige Patienten sprechen Baclofen eine günstige Wirkung zu, wenngleich die Berichte mehr auseinandergehen als bei der Alkoholabhängigkeit. Die Verringerung des Heroinkonsums von Fr. B, Kokain bei Hr. J.,
Subutex® bei Hr. L., Skenan® (Morphin-Sulfat) bei Hr. M. und Hr. J. sind sehr vielversprechend. Unbedingt hinzuweisen ist auf den Stopp intravenöser Injektionen (Heroin und Kokain bei Hr. J und Subutex® bei bei Hr. L.). Injektionen müssen als wichtiges Zeichen schwerer Abhängigkeit gesehen werden.
Baclofen ist Gegenstand klinischer Untersuchungen welche sich suchtartigem Verhalten und der Reduktion des Craving widmen. Insbesondere bei Kokain sind die Ergebnisse ermutigend (118, 119).
GABA wirkt als inhibitorisch wirkende Transmittersubstanz im Zentralen Nervensystem und verändert die Aktivität dopaminerger Neuronen. Wie wir gesehen haben hat dies einen dämpfenden Einfluss auf suchtfördernde Auslöser von Alkohol oder anderen Suchtstoffen wie Kokain (100, 120).
Labortests an Nagern haben gezeigt, dass die Verabreichung von Baclofen die Selbstaufnahme (Auto-Administration) von Heroin und Kokain verringert (121, 122).
Auch anderes suchtartiges Verhalten wird zumindest teilweise verbessert, insbesondere Telefon-Angst und Kaufzwang bei Hr. I. und Essstörungen bei Hr. M.
Diese Resultate rufen große Hoffnungen bei den Patienten hervor und zeigen, wie dringend eine großangelegte klinische Studie wäre. Dies um erstens die Wirksamkeit des Medikaments aufzuzeigen und zweitens dafür eine erweiterte Marktzulassung herbeizuführen.
4.2 Grenzen (Seite 227)
Es handelt sich hier um eine
Beschreibende Untersuchung, welche systembeding an gewisse Grenzen stößt. Jedenfalls können hier keine statistischen Aussagen über die Wirksamkeit oder die Toleranz von Baclofen gemacht werden, sie vermittelt jedoch, aus der Sicht der allgemeinärztlichen Praxis, Gefühle, Emotionen und Meinungen der Patienten, mehr als nur reine Zahlenwerke, die den großen, doppelblinden, randomisierten und Placebo-kontrollierten Studien vorbehalten bleiben. Diese sind selbstverständlich unerlässlich, bedürfen jedoch in der Praxis, und um aussagekräftig zu sein, bedeutende Mittel (Finanzen, Patientenanzahl und Zeit) und sind deshalb nur von der Pharma-Industrie durchführbar.
Die vorliegende Allgemeinärztliche Untersuchung beschränkt sich auf einen aus der Allgemeinmedizin hervorgehenden Patientenkreis, ohne jede Selektion, einfach „ganz gewöhnliche“ Patienten: Alter, Geschlecht, soziales Milieu, allgemeiner Gesundheitszustand, unterschiedliche Süchte, psychologische Profile, Dauer der Baclofen-Therapie etc. Daraus erwächst auch der besondere Nutzen. Das einzige Kriterium für die Patientenauswahl war die einfache Tatsache, mit Baclofen behandelt oder behandelt worden zu sein. Diese
Problematik der Auswahl und der Auswertung, ebenso wie die
geringe Anzahl von Teilnehmern, sind wesentliche Merkmale dieser Untersuchung. Angesichts des rein beschreibenden und qualitativen Charakters der vorliegenden Arbeit stören sie allerdings nicht. Leider noch fehlende, langfristig und großangelegte Studien, jeweils doppelblind und Placebo-kontrolliert, sind ein wesentlicher Faktor, um eine erweiterte Marktzulassung und verlässliche Aussagen über Wirksamkeit und Toleranz zu erlangen. Durch das mangelnde finanzielle Interesse der Pharmaunternehmen wird ein diesbezüglicher Fortschritt jedoch behindert.
Die Untersuchung hat aber auch andere Grenzen:
- Ein gewisser medialer Einfluss ist sicher vorhanden. Ein Teil der Patienten wurde durch die Berichterstattung in den Medien und insbesondere durch das Buch von Dr. Ameisen „Das Ende meiner Sucht“ (91) auf das Medikament aufmerksam und suchte von sich aus nach einem verschreibenden Arzt, welcher Willens war, Baclofen außerhalb der Marktzulassung anzuwenden. Es entstanden auch zahlreiche Internet-Foren und es gibt die Mund zu Mund Propaganda, mit manchmal damit einhergehenden Informationsdefiziten.
Die Patienten sind also aktiv an ihrer Therapie beteiligt, es sind die Freiwilligen und Motivierten, was dann wiederum die Wirksamkeit (Placebo-Effekt) verstärkt. Dann muss man auch anmerken, dass es sich nach zahlreichen Misserfolgen oft um die Behandlung „der letzten Chance“ handelt, und die ganze Hoffnung auf Baclofen fokussiert ist. Das ist für die Patienten natürlich sehr nützlich, verwischt aber etwas die eigentliche Wirkung des Medikaments.
- Ein anderes „Motivationsproblem“ bei der Einstufung der unerwünschten Wirkungen kann man ebenfalls erkennen. Wir haben bemerkt, dass oft ein Ausgleich zwischen positiver Wirkung und unerwünschter Wirkung gesucht wird, den jeder Patient gemäß seiner eigenen Motivation definieren kann. So werden von sehr motivierten Patienten die unerwünschten Wirkungen immer besser toleriert und kleingeredet, sie vernachlässigen eventuelle negative Aspekte und richten das Augenmerk auf die eigentliche Wirkung, die Verringerung des Craving. Im Gegensatz dazu kann ein Patient den Wunsch nach regelmäßigem, kontrolliertem Konsum von Alkohol oder anderen Suchtstoffen haben. Er wählt dann eine geringere Dosierung mit einer geringeren Auswirkung auf das Craving und misst den unerwünschten Wirkungen mehr Gewicht zu, die ihn dann bei einer niedrigeren Dosierung verbleiben lassen. So zum Beispiel Hr. J., der zwischen diesen beiden Verhaltensweisen hin und her schwankt und dessen Motivation nicht klar definiert ist.
- Ebenfalls zu verzeichnen ist ein potentiell fehlgeleiteter Effekt von Baclofen. Das Dogma „Null Alkohol“ ist bei Alkoholabhängigkeit nicht mehr universell gültig und einige Patienten praktizieren einen gleichmäßigen aber kontrollierten Konsum. Sie sind nicht abstinent, und die schädlichen Auswirkungen von Alkohol (oder anderen Suchtstoffen) bleiben bestehen, wenn auch auf tieferem Niveau.
Ob es sich hierbei um einen eigentlichen Misserfolg handelt oder um eine Behandlung mit dem einfachen Zweck der Risikoreduzierung, welches ein völlig neuer Ansatz in der Suchttherapie wäre, muss noch definiert werden.
Es gibt allerdings auch Fälle von fehlgeleiteter Verwendung von Baclofen, wie derjenigen von Hr. K., als Hilfsmittel zwischen zwei Abstürzen („Medikament gegen den Kater“, wie er sich ausdrückt) und mit fortgesetztem exzessivem Alkoholkonsum (hier: drei Liter Wein pro Tag). Dies ist jedoch ein Einzelfall.
- Die Auswirkungen auf den Gebrauch von Tabak sind sehr fragwürdig, kein Patient berichtete von einer nennenswerten Reduzierung seines Konsums. Was die Opiate betrifft, sind die Resultate unterschiedlich, es gibt Veränderungen bei den Einnahme-Gewohnheiten mit zuweilen gutem Erfolg.
- Die Modalitäten der Verschreibung sind ziemlich vage. Wir haben gesehen, dass die Dosierung langsam gesteigert werden muss, um unerwünschte Wirkungen wie Müdigkeit klein zu halten. Die Höhe der wirksamen Dosis bleibt hingegen individuell, und es scheint schwierig zu sein, sie allgemeingültig zu definieren. Insbesondere auch mögliche Einflüsse von Gewicht, Geschlecht, Schwere der Abhängigkeit etc. müssten noch präzisiert werden.
Außerdem wurden angesichts des recht kurzen Beobachtungszeitraumes die Umstände der Beendigung der Therapie nicht untersucht. Fr. H. und Hr. L. sind mit 3, respektive 1,5 Jahren die Patienten mit der längsten Therapie-Dauer und nehmen noch immer 50 mg/Tag zu sich. Sicher, diese Dosis ist geringer als zu Anfang, und gehört zu den tiefsten, welche wir anlässlich dieser Untersuchung angetroffen haben. Für die Patienten bleibt sie aber unabdingbar, sie können sich ein vollständiges Absetzen nicht vorstellen, weil sie sonst die Rückkehr des Cravings und damit einhergehende Rückfälle befürchten. Auch Dr. Ameisen behält die Einnahme des Medikaments seit nunmehr 6 Jahren bei, mit unterschiedlicher Dosierung und je nach Craving und äußeren Einflüssen.
Und dann noch eine andere naheliegende Frage: Ersetzt Baclofen nicht eine Sucht durch eine andere Abhängigkeit? Es ist in der Literatur kein einziger solcher Fall bekannt. Baclofen wirkt auf das Belohnungssystem, nicht als Substitut.
Schlussfolgerungen (Seite 231)
Nach dem Erscheinen des Buches „Das Ende meiner Sucht“ von Olivier Ameisen, 2008, hat sich in Frankreich die Verschreibung von Baclofen zur Verminderung des Cravings (unwiderstehliches Konsumverlangen) bei Alkoholmissbrauch verbreitet. Um den therapeutischen Nutzen von Baclofen festzustellen, verlangte die wissenschaftliche Gemeinschaft und die nationale Medikamenten-Zulassungsbehörde (AFSSAPS) seit 2009 klinische Studien. Bis zum heutigen Tag, Mai 2011, hat keine einzige Studie begonnen, einige sind immerhin in Vorbereitung.
Im Elsass verschreiben mehrere Mediziner Baclofen und die Suchtmedizinische Abteilung des Hospitals „Pasteur“ in Colmar behandelt eine größere Patientengruppe.
Es erschien uns also opportun, die Verwendung von Baclofen als Anti-Craving Behandlung detailliert zu beschreiben, mit deren Nutzen und Grenzen und mit dem Empfinden der Patienten im Fokus.
Nach der Darstellung der vorhandenen Literatur und der derzeitigen Anwendung des Medikaments stellen wir anhand von persönlichen Gesprächen die Erfahrungen von 13 Patienten dar und fassen die Ergebnisse in einer vergleichenden Tabelle zusammen.
Die Analyse der jeweiligen Einzelfälle bestätigt die Anticraving-Wirkung, die Wirksamkeit über die Alkoholabhängigkeit hinaus, angstlösende Effekte, große Zufriedenstellung der Patienten und die Notwendigkeit der individuellen Anpassung der Behandlung die in einer rein statistischen Studie schwer zu erfassen wäre.
Das Selbstmanagement der Behandlung ist die Regel, das Ziel eine persönliche Balance von Nutzen und Risiko, hin zu einem mehr oder weniger großen jedoch geregelten Konsum. Diese Regelung kann zu einer totalen Abstinenz führen oder auch zu einem Abbruch der Therapie und zu einer gänzlichen oder vorübergehenden Wiederaufnahme des Konsums.
Der kurze Beobachtungszeitraum erlaubt keine Rückschlüsse auf das Ende der Baclofen-Therapie.
Die unerwünschten Wirkungen sind zahlreich und werden je nach Zielsetzung der jeweiligen Patienten mehr oder weniger gut toleriert. Manchmal führen sie zum Abbruch der Therapie.
Diese wenigen Fälle zeigen ein günstiges Verhältnis von Nutzen und Risiken auf, werfen aber auch zahlreiche Fragen auf: Definition der Indikationen, präzise Definition der Verschreibungs-Praxis, Einfluss von Geschlecht, Körpergewicht und Schwere der Abhängigkeit auf die Wirksamkeit von Baclofen, Beherrschung der unerwünschten Wirkungen (insbesondere Müdigkeit), Verfahren bei der Beendigung der Therapie.
Das Fehlen der entsprechenden Marktzulassung ist kein unüberwindbares Hindernis. Sollte sich der Nutzen von Baclofen im Sinne der vorliegenden Arbeit jedoch bestätigen, wäre eine rasche Zulassungserweiterung wünschenswert.
Bei der Erarbeitung dieser Arbeit bestanden keine Interessenskonflikte mit Pharma-Unternehmen.
Strasbourg, 28.05.2012, Olivier SANGLADE