Die Reportage „Alkoholismus: Wie ein Medikament helfen soll“ im MDR vom 12. Januar 2016 wurde gestern wiederholt, und zwar zur besten Sendezeit in „Plusminus“ (ARD 21:45 – 22:15) Die Reportage trug diesmal den Titel:
Auf diesen Aspekt zielt auch die Programmbeschreibung, welche ich hier (fast) vollständig zitiere:
(Link zum Original und zur Mediathek)Plusminus hat geschrieben:
In Frankreich verbreitet
Der Wirkstoff Baclofen ist nicht neu. Es gibt ihn schon seit 40 Jahren. Damals wurde er für die Behandlung von Multipler Sklerose oder Rückenmarkserkrankungen entwickelt. Dass er auch gegen Alkoholismus hilft, kam durch einen Zufall heraus: Der Pariser Arzt Olivier Ameisen, selbst schwer alkoholabhängig, hatte im Selbstversuch Baclofen getestet und wurde damit endlich trocken. Seine Erfahrungen veröffentlichte er in einem Buch, das auch den Pariser Suchtmediziner Prof. Philippe Jaury überzeugte:
"Es fehlte uns ein Hilfsmittel. Ich habe auf ein Medikament gewartet – mit Baclofen haben wir es schließlich gefunden."
Inzwischen hat Jaury 400 Patienten mit Baclofen behandelt. Damit ist er einer von 5.000 französischen Ärzten, die das Medikament verschreiben und damit schon hunderttausenden Patienten geholfen haben.
Grauzone in Deutschland
In Deutschland ist Baclofen als Medikament gegen Alkoholismus kaum bekannt und nicht zugelassen. Allerdings ist die Verschreibung auch nicht verboten. Ärzte wie Dr. Vera Schnell, die es tun, begeben sich jedoch in eine juristische Grauzone:
"Ich bin mehr als bei einem anderen Produkt, das zugelassen ist, dafür verantwortlich, dass das Produkt so eingenommen wird, wie es richtig ist, und dass, wenn etwas schief geht, ich nicht sagen kann: 'Ja, die Pharmaindustrie hat vielleicht auch einen Anteil daran.' Sondern ich stehe ganz alleine mit dem Produkt da."
Deshalb erklärt sie genau die möglichen Nebenwirkungen von Baclofen, zum Beispiel Müdigkeit oder Schwindel. Doch das ist allemal besser, als wenn sich ihre Patienten den Körper mit Alkohol zerstören, so die feste Überzeugung der Ärztin.
Keine Studien, keine Zulassung
Doch warum wird das Mittel nicht offiziell gegen Alkoholsucht zugelassen? Zunächst wären dafür Studien erforderlich. Wissenschaftler der Charité haben zwar kürzlich die hohe Wirksamkeit von Baclofen an 43 Probanden nachgewiesen. Allerdings ist der Zulassungsbehörde die Zahl der Probanden zu wenig. Bei der Pharmaindustrie besteht kein Interesse, größere Studien zu finanzieren, weil der Patentschutz für Baclofen abgelaufen ist und sich damit kaum noch Geld verdienen lässt.
Kritik an Baclofen
Außerdem gibt es nicht nur Befürworter von Baclofen, sondern auch Gegner. Sie sind vorrangig unter Suchtmedizinern der großen Kliniken zu finden. Einer von ihnen ist Prof. Tom Bschor von der Berliner Schlosspark-Klinik:
"Eine besondere Gefahr beim Einsatz von Baclofen ist, dass der Patient letztlich seine Suchtüberzeugung aufrecht erhält, indem er nämlich denkt, jetzt gibt es ein Wundermittel, das alle meine Probleme löst, so wie es vorher der Alkohol war."
Statt einer Pille gegen die Sucht befürwortet er Verhaltenstherapien. Die Patienten sollen lernen, auf Alkohol zu verzichten. Die Statistik spricht nicht unbedingt dafür, denn etwa die Hälfte der Patienten wird nach Langzeittherapien rückfällig.
Spielt Geld ein Rolle?
Möglicherweise geht es aber auch um Geld: Ein Patient bringt nämlich einer Therapieeinrichtung am Tag 120 Euro. Eine Tagesration Baclofen kostet dagegen gerade einmal 0,57 Euro.
Entlastung der Sozialkassen
Dr. Vera Schnell ist überzeugt, dass nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Rentenkassen durch den Einsatz von Baclofen viel Geld sparen könnten:
"Jemand, der wegen chronischem Alkoholismus mit 45 Jahren berentet wird, kostet das Sozialsystem bis zu seinem Tod etwa eine halbe Million."
Keiner fühlt sich zuständig
Wir bitten die Deutsche Rentenversicherung, mehrere Krankenkassen, den Gesamtverband der Krankenkassen um eine Stellungnahme. Alle erklären, es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, die erforderlichen Studien zu veranlassen. Selbst die Politik sieht keinen Handlungsbedarf: Auf Nachfrage von "Plusminus" erklärte das Bundesgesundheitsministerium ebenfalls, nicht dafür zuständig zu sein, die Studien in die Wege zu leiten. Dabei kosten die Folgen des Alkoholismus den Staat jährlich etwa 27 Milliarden Euro.
Hakan A. kann das nicht verstehen, denn ihm hat Baclofen bei seiner Therapie geholfen. Seit über einem Jahr ist trocken und hat zurück in ein besseres Leben gefunden.
Zwei groß angelegte Studien zu Baclofen sind in Frankreich kürzlich zum Abschluss gekommen. Ihre Ergebnisse werden bereits am 3. September 2016 auf dem Suchtkongress "Alkoholismus" in Berlin veröffentlicht.
Wenn diese Ergebnisse die Wirksamkeit von Baclofen bestätigen, könnten möglicherweise auch in Deutschland mehr Menschen die Chance erhalten, mit diesem Medikament behandelt zu werden, denn Frankreich will die Ergebnisse auch bei der europäischen Zulassungsbehörde einreichen.
Dem ist nichts hinzuzufügen .
Meint DonQuixote