Immer dann, wenn alkoholabhängige Menschen den Versuch starten, ohne Alkohol klar zu kommen, taucht früher oder später etwas auf, das mit allen Mitteln versucht, diese guten Vorsätze zunichte zu machen:
CRAVING (
engl. Begierde, Verlangen).
Dieser Fachbegriff aus der Suchtmedizin umschreibt das kontinuierliche und nahezu unbezwingbare Verlangen eines Suchtkranken, sein Suchtmittel zu konsumieren. Nicht selten gipfelt es im Rückfall.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde alkoholabhängigen Menschen, die das CRAVING nicht mehr aushielten und wieder zur Flasche griffen, Willensschwäche, mangelnde Disziplin, Versagen, fehlendes Durchsetzungsvermögen und vieles mehr vorgeworfen.
Dank moderner Techniken (z. B. fMRT - Funktionelle Magnetresonanztomographie) ist die Medizin heute glücklicherweise ein paar Schritte weiter. Ich will an dieser Stelle einmal versuchen, auf eine einfache, verständliche Weise zu erklären, was sich hinter dem mysteriösen Begriff CRAVING verbirgt:
Da gibt es zunächst das
PHYSISCHE CRAVING ("Trinkzwang"). Dagegen sind Betroffene machtlos, weil es sich um biochemische Prozesse im Stoffwechsel handelt, die automatisch ablaufen und willentlich nicht beeinflussbar sind.
Einen schönen Überblick, wie Alkohol auf den menschlichen Stoffwechsel einwirkt, gibt die Animation
"Drugs and the Brain". Vereinfacht kann man sagen, dass durch jahrelangen, dauerhaften Alkoholkonsum im GABA-, im GLUTAMAT-, im BELOHNUNGSSYSTEM etc. so einiges durcheinander geraten ist. Offensichtlich wird das zum Beispiel bei der so genannten Toleranzentwicklung, also dem Umstand, dass man immer mehr vom Suchtmittel benötigt, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, und dass man irgendwann ohne das Suchtmittel gar nicht mehr "funktioniert". Man ist im wahren Wortsinn vom Suchtmittel "abhängig" geworden. Dass es sich dabei um gravierende und nachhaltige Veränderungen handelt, merkt man spätestens dann, wenn das Suchtmittel plötzlich weg fällt. Akut äußert sich das in Entzugserscheinungen wie Zittern, Schwitzen, Erbrechen, Nesteln etc., die klingen aber in der Regel nach +/- einer Woche wieder ab. Was nicht heißt, dass Entzugserscheinungen auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Je nach Schwere ist die medizinische Behandlung bzw. eine stationäre Entgiftung unabdingbar, weil Entzugserscheinungen mitunter in Krampfanfällen und schlimmstenfalls im Delir enden können. Und Letzteres verläuft auch heute noch unbehandelt in ca. 20 Prozent der Fälle tödlich. Deshalb sei an dieser Stelle auch nochmal erwähnt, dass abruptes Absetzen von Alkohol gefährlich ist.
Was längerfristig bleibt, ist das CRAVING. Weil die Rezeptoren jahrelang mit dem Suchtmittel "gefüttert" wurden, haben sie natürlich nach wie vor "Hunger". Sie gieren regelrecht nach dem Suchtmittel, weil sie sich daran gewöhnt haben. Wie es im Kopf eines Betroffenen aussieht, wenn
PHYSISCHES CRAVING auftritt, sieht man hier im fMRT (die Bereiche, in denen die Forscher das
PHYSISCHE CRAVING vermuten, sind
rot dargestellt):
Nochmal, weil das wirklich wichtig ist: Das
PHYSISCHE CRAVING ist willentlich NICHT beeinflussbar. Das spielt sich alles auf der biochemischen Ebene ab. Betroffene spüren nur das unbändige Verlangen, jetzt unbedingt etwas trinken zu MÜSSEN. Sie wissen meist nicht wieso, weshalb, warum...sie wissen nur: Es MUSS jetzt unbedingt sein. Dagegen kann man ankämpfen. Einen Tag, eine Woche, vielleicht sogar länger. Aber die meisten kapitulieren irgendwann. Rückfall.
Welche Rolle spielt nun in diesem Zusammenhang BACLOFEN? Wieder vereinfacht kann man sagen, dass dieses Medikament es vermag, den "Hunger" der Rezeptoren ein Stück weit zu stillen. Nicht, weil es den fehlenden Alkohol ersetzt (im Sinne eines Substituts, wie beispielsweise Methadon bei Heroinabhängigkeit), sondern weil es beruhigend auf die Rezeptoren im GABA-System einwirken kann. Und BACLOFEN tut das in einem Bereich (GABA-B), wo keine Toleranz- und keine Rauschentwicklung stattfindet. Man kann also von BACLOFEN weder süchtig noch "high" werden. Zudem wird es über die Nieren verstoffwechselt, was es gerade für abhängige Menschen, deren Leber häufig vorgeschädigt ist, prädestiniert.
Blickt man nun mittels fMRT beim gleichen Patienten in den gleichen Kopf, wenn dieser eine Woche lang mit BACLOFEN behandelt wurde, lässt sich erahnen, um wie viel ruhiger und gelassener es dort nach der Medikation mit BACLOFEN aussieht (
PHYSISCHES CRAVING ist wieder
rot dargestellt):
Die Bilder stammen aus einem Video von Anna Rose Childress, University of Pennsylvania.BACLOFEN vermag es also, das "Neuronenfeuerwerk" im Hirn einzudämmen und den Kopf frei zu machen für die eigentliche Abstinenzarbeit, die Behandlung des
PSYCHISCHEN CRAVINGS (aber dazu später).
Um an dieser Stelle ein Stück weit auch Entwarnung zu geben: Das
PHYSISCHE CRAVING lässt mit zunehmender Abstinenzdauer nach. Die "hungrigen" Rezeptoren ziehen sich irgendwann zurück, wenn sie merken, dass ihre Lage mehr oder weniger aussichtslos ist. Aber ganz verschwinden tun sie – zumindest nach heutigem Wissensstand – nie. Das zeigt sich zum Beispiel an der Tatsache, dass Betroffene - selbst wenn sie jahrelang abstinent waren - schon nach wenigen Tagen erneuten Alkoholkonsums wieder genau so viel vertragen wie zu dem Zeitpunkt, als sie aufgehört hatten zu trinken. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass die "alten" Rezeptoren sich wieder zu Wort melden.
So genannte TRIGGER (
engl. Schlüsselreize) können sowohl
PHYSISCHES CRAVING als auch
PSYCHISCHES CRAVING hervorrufen - je nachdem, wie stark die Reize individuell mit Trinkerlebnissen, -erfahrungen, -gewohnheiten etc. verknüpft sind.
Ein Biergarten an einem heißen Sommertag beispielsweise kann "triggern". Oder das Weinregal im Supermarkt. Oder James Bond, der sich gerade im Casino einen Martini ("geschüttelt - nicht gerührt") bestellt. Auch Plätze, an denen man früher öfters getrunken hat, bestimmte Anlässe, Erinnerungen, Lieder, die Tankstelle am Eck...all das und noch viel mehr können Auslöser für CRAVING sein, das sich dann wieder in einer inneren Unruhe, Anspannung, Gedankenkreisen etc. bis hin zum unerträglichen Verlangen bemerkbar macht. Die TRIGGER müssen dabei nicht immer visuell (also sichtbar) vorhanden sein, oft reichen schon die Gedanken daran aus, um wieder CRAVING auszulösen und gegebenenfalls zu Rückfällen führen.
Weil solche TRIGGER sowohl das willkürlich nicht beeinflussbare
PHYSISCHE CRAVING als auch das
PSYCHISCHE CRAVING auslösen können, sind sie in der schematischen Darstellung ganz oben irgendwo in der Grauzone zwischen
PHYSISCHEM CRAVING und
PSYCHISCHEM CRAVING angesiedelt.
Während das
PHYSISCHE CRAVING im Idealfall mithilfe von BACLOFEN eingedämmt werden kann, bedarf es bei der zweiten Form des CRAVINGS - dem
PSYCHISCHEN CRAVING ("Trinkdrang") - einer großen Portion an Eigeninitiative. Denn dieses
PSYCHISCHE CRAVING können Betroffene willentlich beeinflussen.
Hier liegt meines Erachtens die meiste Arbeit mit Blick auf das Erreichen einer "zufriedenen" Abstinenz, weshalb man im Zusammenhang mit BACLOFEN nicht von einer "PILLE gegen die PULLE" sprechen sollte. BACLOFEN kann eine Art "Geh-Hilfe" sein und Betroffene dabei unterstützen, den Kopf frei zu bekommen für psychotherapeutische Maßnahmen und die "Arbeit an sich selbst". Wie wir inzwischen wissen, kann das Medikament dank seiner anxiolytischen ("angstlösenden") und antidepressiven Wirkung in diesem Bereich auch zusätzliche, wertvolle Dienste leisten - aber "Gehen" muss letztendlich jeder Patient alleine.
Zurück zum
PSYCHISCHEN CRAVING: Abhängige Menschen haben im Laufe ihrer Suchtkarriere eine ganz eigene Strategie entwickelt, um Probleme zu lösen, sich in Hochstimmung zu versetzen, Langeweile auszuhalten, mit Enttäuschungen fertig zu werden, Streits und Diskussionen zu verarbeiten und all die anderen angenehmen und unangenehmen Dinge des Lebens zu meistern: "Nach einem Schluck sieht die Welt doch schon wieder ganz anders aus...!"
Diese Strategie fällt nun weg. Und mehr noch: Plötzlich hat man jede Menge Zeit. Die Stunden, die früher mit Trinken verbracht wurden, sind auf einmal "übrig". Wohin damit? Dann dazu diese Leere. Irgendwie scheint überhaupt gar nichts mehr Spaß zu machen.
Weil "Glücksgefühle" und gute Stimmungen jahrelang künstlich durch das Suchtmittel erzeugt wurden, hat der eigene Körper verlernt, "angenehme" Botenstoffe wie Dopamin, Serotonin, Endorphine etc. auszuschütten. Alles ist erstmal trist und trostlos.
Fast schon verständlich, dass sich da irgendwann eine gewisse Sehnsucht nach früher breit macht. Zurück in die Zeit, wo alles so einfach war. Ein Schluck, eine Flasche, und die Welt war wieder in Ordnung. Der Drang, wieder in die alte heile Welt zu flüchten, wächst (
PSYCHISCHES CRAVING).
Der große Unterschied zwischen
PHYSISCHEM CRAVING ("Trinkzwang") und
PSYCHISCHEM CRAVING ("Trinkdrang") ist, dass man letzteres durch eigenes Zutun beeinflussen kann. Man gewinnt sozusagen die ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT zurück. Aus dem "Ich MUSS trinken" wird ein "Ich KÖNNTE bzw. WÜRDE AM LIEBSTEN trinken".
Ich habe dabei in dieser Zusammenfassung absichtlich die neuen, unverbrauchten Begriffe "TRINKZWANG" für
PHYSISCHES CRAVING und "TRINKDRANG" für
PSYCHISCHES CRAVING eingeführt, weil ja in diesem Kontext auch zahlreiche andere Begriffe im Netz umherschwirren, bei denen die Definitionen mitunter nicht ganz klar sind.
Trinkdruck oder
Suchtdruck zum Beispiel, was oftmals als Synonym für CRAVING verwendet wird oder der
Trinkwunsch als Abgrenzung von einer unverbindlichen Vorplanung (z. B. „Silvester trinke ich ein Glas Sekt“) zum unmittelbar verwirklichten und umgesetzten situativen Glas, weil mich halt gerade „alles irgendwie nervt“.
Was hier so einfach und einleuchtend klingt, ist für den Einzelnen mit viel Arbeit verbunden. Der Weg aus der Abhängigkeit ist anstrengend. Und das geht auch nicht von heute auf morgen, weil man stellenweise sein Leben komplett umkrempeln muss. Es gilt, alternative Wege, neue Strategien zu entwickeln, um das Leben auch ohne Suchtmittel wieder genießen zu können. Aber es geht. Von Tag zu Tag besser. Psychotherapie, eigene Lernerfahrungen und das "Reinhören" in sich selbst können dabei wichtige Hilfsmittel sein.
Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sind zum Beispiel: Was macht mir Spaß? Was wollte ich schon immer mal machen? Welches Hobby könnte ich mir vorstellen? Wie kann ich künftig mit Stress umgehen? Was - außer Alkohol - kann mir noch Erleichterung, Entspannung verschaffen? Wo finde ich (neue) Freunde? Wo liegen meine Stärken? Welche Fähigkeiten kann ich wieder ausgraben, die durch den Alkohol all die Jahre Verschütt gegangen sind? Warum nicht mal was ganz Ausgefallenes wagen?
Und letztlich die banale aber immens wichtige Feststellung: Ich bin nicht schuld an meiner Krankheit, und ich bin alles andere als ein Versager. Ganz im Gegenteil: Ich bin gerade dabei, die größte Herausforderung meines Lebens zu meistern. Was bitte kann mich eigentlich noch groß erschüttern? Die Steine, die mir der Alltag jetzt noch in Weg legt, sind dagegen doch Peanuts.