Selbstheilung bei Suchterkrankungen: Ein Erfolgsmodell

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DonQuixote
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Selbstheilung bei Suchterkrankungen: Ein Erfolgsmodell

Beitragvon DonQuixote » 26. Juli 2013, 22:13

Hallo erst mal

Hoffentlich passend zu zwei anderen gerade engagiert diskutierten Threads, habe ich noch das da:

  • Selbstheilung bei Suchterkrankungen. Ein Erfolgsmodell.
Ich bin im Moment ziemlich schreibfaul, deshalb gibt’s jetzt massig zitierten Text. Trotzdem viel Vergnügen.

Quelle hat geschrieben:
  • Einleitung

    Suchterkrankungen gelten in der Regel als sehr schwerwiegend und nur durch intensive Behandlung heilbar. Die Tatsache, dass Menschen auch ohne die Behandlung eine Sucht überwinden können, galt lange Jahre als Tabu, obwohl es bereits seit den 1960er Jahren erste Befunde gibt, die daran zweifeln lassen, dass es bei einer Suchterkrankung unweigerlich zu einer Verschlimmerung bis hin zum Tod kommt, wenn keine Behandlung in Anspruch genommen wird. Die ersten epidemiologischen Befunde legten nahe, dass es ein Phänomen zu geben scheint, was oft als Spontanremission beschrieben worden ist. Der Begriff ist insofern irreführend, als es sich um keine spontanen Ereignisse handelt, sondern bei genauer Betrachtung um Prozesse, die entweder durch Ereignisse oder weit häufiger durch eine langsame Entwicklung hervorgerufen werden. Daher sind bessere Begriffe für dieses Phänomen Selbstheilung, Remission ohne formelle Hilfe oder unbehandelte Remissionen. Im englischsprachigen Bereich wurde auch oft der Begriff "natural recovery" genutzt, der jedoch auch insofern zweideutig ist, als dass im Gegenzug die Überwindung einer Sucht mit Hilfe von Therapie als unnatürliche Remission bezeichnet werden müsste. Der vorliegende Artikel beschreibt zum einen, wie häufig Selbstheilungen bei Abhängigkeitserkrankungen auftreten, zum weiteren, was die Selbstheilung ermöglicht und welche Konsequenzen sich daraus für die Behandlung ergeben.
    […]
    .
  • Häufigkeit unbehandelter Remissionen

    Remission wird in der Regel dadurch definiert, dass im Lebensverlauf die betreffenden Personen die Kriterien für eine Abhängigkeit erfüllt haben, diese jedoch innerhalb der letzten zwölf Monate nicht mehr vorlagen. Das Entscheidende ist also, dass keine Abhängigkeit mehr vorliegt. Dabei ist es unerheblich, ob noch Alkohol in geringen Maßen getrunken oder Abstinenz eingehalten wird. Um von einer unbehandelten Remission oder Remission ohne formelle Hilfe zu sprechen, gilt als weiteres Kriterium, dass im Lebensverlauf keine oder zumindest nur geringfügige suchtspezifische Hilfe in Anspruch genommen wurde. […] Das Ausmaß, wie häufig die unbehandelten Remissionen in der Bevölkerung zu finden sind, zeigte sich jedoch erst durch große Bevölkerungsstudien. Erste Befunde aus Kanada wiesen mehr als 78 Prozent der Remissionen als unbehandelt aus […] Schließlich konnten zwei sehr große US-amerikanische Studien mit jeweils mehr als 40.000 befragten Personen zweifelsfrei belegen, dass der überwiegende Teil auch bei einer sehr klaren Definition der Abhängigkeitskriterien ohne die Inanspruchnahme von Hilfen remittiert […] Unter allen Remittierten betrug die Rate in der jüngeren der beiden Studien 72,4 Prozent.
    […]
    .
  • Ergebnisse deutscher Studien

    Auch eine in Deutschland durchgeführte Studie, die Jugendliche und junge Erwachsene (14 bis 24 Jahre) über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass der überwiegende Teil der Remissionen ohne die Inanspruchnahme von Hilfe stattgefunden hat. Die entsprechenden Raten liegen für Alkohol bei 87 Prozent, für Cannabis bei 85, für illegale Substanzen bei 95 und für Tabak bei 99 Prozent. […] Schließlich zeigt sich das Phänomen der Remission ohne formelle Hilfe auch bei älteren Stichproben. Bei 51- bis 65-Jährigen konnten in einer Längsschnittuntersuchung nach vier und zehn Jahren 73 Prozent als ohne formelle Hilfe remittiert bezeichnet werden. Unbehandelte Remissionen sind jedoch nicht nur auf stoffgebundene Abhängigkeiten bezogen. Auch z. B. bei Pathologischem Glücksspiel zeigt sich, dass die überwiegende Zahl der Betroffenen ohne formelle Hilfe remittiert. In einer in Deutschland durchgeführten Untersuchung lag diese Rate bei 80 Prozent […].
    Obwohl insgesamt bereits seit vielen Jahren Befunde darauf hinweisen, dass Menschen nicht in Behandlung gehen müssen, um ihre Abhängigkeit zu überwinden, ist diese Erkenntnis selbst in Fachkreisen lange Zeit nicht anerkannt worden. Dabei handelt es sich bei der Remission ohne formelle Hilfe nicht um eine vorübergehende Pause im Abhängigkeitsverlauf, vielmehr scheint es so zu sein, dass die Remission eine hohe Stabilität aufweist. So zeigte eine Untersuchung, dass von den zur Erstbefragung seit mehr als zwölf Monaten ohne formelle Hilfen remittierten Probanden 92 Prozent nach 24 Monate weiterhin eine unbehandelte Remission aufwiesen.
    […]
    .
  • Was ermöglicht die Selbstheilung?

    Es konnte gezeigt werden, dass Personen, die es schafften, ohne Hilfe zu remittieren, insgesamt eine geringere Schwere der Abhängigkeit aufwiesen im Vergleich zu denen, die in Behandlung gegangen sind. Auch hatten diese häufiger weniger alkoholbezogene Probleme geschildert. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass nur Personen mit einer leichten Abhängigkeit es schaffen, ohne Hilfe zu remittieren. Vielmehr ist das Spektrum der Schwere der Problematik bei dieser Gruppe weitaus größer als bei denen, die in Behandlung gehen. So konnte gezeigt werden, dass Selbstremittierer, die über Medienaufrufe gefunden wurden, schwerer abhängig waren als Patienten, die sich in stationärer qualifizierter Entzugsbehandlung befanden […] Auch wiesen Personen, die selbst remittieren konnten, eine sogar höhere Schwere im Bereich nicht physiologischer Abhängigkeit gegenüber weiterhin Abhängigen in einer Allgemeinbevölkerungsstudie auf […] Schließlich konnte gezeigt werden, dass diejenigen, die die höchste Schwere aufwiesen, noch zu 54 Prozent ohne formelle Hilfe remittierten […]. Zusammengefasst befinden sich unter den Selbstremittierern sehr schwere Fälle, aber insgesamt sind im Mittel die Schwere und das Ausmaß der Problematik auf Basis von Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung geringer als bei denen, die sich in stationärer Behandlung befinden.
    […]
    .
  • Welche Faktoren erhalten eine Remission aufrecht?

    Neben den Auslösebedingungen wurde untersucht, welche Faktoren die Remission aufrecht erhalten. Hierzu gehörten positive Änderungen in den Lebensbedingungen […] sowie Veränderungen in sozialen Rollen, die im Verlauf des Lebens übernommen werden […]. Am häufigsten genannt werden als aufrechterhaltende Bedingungen soziale Unterstützung, wichtige Bezugspersonen und Familie, Entwicklung nicht substanzbezogener Interessen, Vermeidung von Situationen, die im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen, Aspekte im Zusammenhang mit der Arbeit, Änderung des Lebensstils, Religion, Selbstkontrolle und Willensstärke, positive persönliche Attribute, Gesundheit und finanzielle Aspekte […] Diese, meist aus qualitativen Interviewstudien stammenden Resultate lassen sich bei genauer Prüfung aber nicht als Spezifika der Selbstheilung bei substanzbezogenen Störungen finden. So gab es beim Vergleich von Selbsthilfegruppenteilnehmern und Alkoholabhängigen, die ohne Hilfe remittierten, relativ wenig Unterschiede in den aufrechterhaltenden Bedingungen […]. Viele der in Interviewstudien gefundenen Aufrechterhaltungsfaktoren lassen sich unter dem Begriff "Social Capital" zusammenfassen. Das bedeutet, dass insgesamt gute soziale Bedingungen ausschlaggebend für das Erreichen einer Remission ohne Inanspruchnahme von Hilfe sind.
    […]
    .
  • Konsequenzen für die Behandlung

    Angesichts der Tatsache, dass es eine große Gruppe von Personen gibt, die zu einer Selbstheilung bei Suchterkrankungen in der Lage sind, ist der Einsatz von Früh- und Kurzinterventionen zu fordern, die solche Prozesse verstärken und beschleunigen […].
    Die Schlussfolgerung sollte keineswegs sein, dass Menschen keine weiteren Hilfen benötigen, da sie es auch ohne professionelle Hilfe schaffen. Vielmehr sollte der oft jahrelange Prozess des Herauswachsens aus der Sucht frühzeitig angestoßen werden. Es erscheint aber folgerichtig, dass bereits kleine Interventionen hier schon eine große Wirksamkeit zeigen können, was auch durch die häufig nachgewiesene Wirksamkeit von Kurzinterventionen bestätigt wird […]. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Menschen keine Therapie aufsuchen, sollte der Zugang zu der Zielgruppe der Betroffenen proaktiv sein. Das derzeitige Versorgungssystem ist reaktiv, d. h. es wartet darauf, dass Personen die entsprechenden Hilfen von selbst in Anspruch nehmen. Proaktiv bedeutet, auf die Zielgruppe zuzugehen. Das lässt sich z. B. in Einrichtungen der medizinischen Basisversorgung besonders gut erreichen.
    […]
    .
  • Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Hilfe

    Betrachtet man Gründe, weswegen Menschen nicht in Behandlung gehen, so findet man sowohl bei Alkoholabhängigen als auch bei Personen mit pathologischem Glücksspielen, dass die Hauptargumente sind, dass die Betroffenen dachten, sie würden damit alleine fertig werden, dass die Sucht kein so großes Problem darstellte, dass sie sich nicht eingestehen wollten, Hilfe zu brauchen oder sich nicht in der Lage sahen, diese Probleme mit anderen zu besprechen. Angesichts dieser Gründe ist eine Entstigmatisierung von Behandlungen dringend angeraten. Auf eine provokante Forderung zugespitzt, würde das bedeuten, dass der Patient den Eindruck gewinnen sollte, gar nicht in Behandlung zu sein, sondern dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit im Vordergrund steht. Weiter lässt sich aus den Befunden ableiten, dass die Autonomie des Patienten weitgehend gewahrt werden sollte. Hier finden sich in¬teressante Parallelen zur Grundhaltung des Motivational Interviewing, indem ein partnerschaftliches, akzeptierendes Vorgehen, gekennzeichnet durch Zusammenarbeit, dem Wachrufen von Motivationen auf Grundlagen von Sichtweisen, Zielen und Werten des Klienten im Fordergrund stehen sowie die Wahrung der Autonomie, was bedeutet, dass das Recht und die Fähigkeit des Klienten anerkannt wird, über sich selbst zu bestimmen.
    […]
    .
  • Fazit

    Insgesamt steht die Erforschung der Selbstheilung bei Suchterkrankungen noch relativ am Anfang […]. Frühe Studien haben zunächst einmal das Phänomen aufdecken können und auch die Häufigkeit dieses Weges aus der Sucht belegt. In der Erforschung der Faktoren, die es Menschen ermöglichen, ohne formelle Hilfe zu remittieren, standen zunächst qualitative Interviewstudien im Vordergrund. Erst relativ spät begann die Forschung, hier auch Kontrollgruppen einzusetzen. Allerdings basierten nahezu alle Studien auf Stichproben, die über Pressemitteilungen gesucht wurden. Es könnte aufgezeigt werden, dass dieser Weg der Rekrutierung jedoch zu einer Verzerrung führt. Verglichen mit Personen aus der Allgemeinbevölkerung fand man so vermehrt sehr schwere Verläufe und auch eher Personen, die ihre Remission mit Hilfe von Abstinenz erreichten und nicht durch moderaten Konsum […]. Dieser Befund macht deutlich, dass große Bevölkerungsstudien notwendig sind. Vertiefende Analysen, die insbesondere Prozesse der Remission noch genauer beleuchten, sind anzustreben, um die Entwicklung von Interventionen voranzutreiben. Hier sind in der Zukunft interessante Befunde erwartbar.
    PD Dr. Hans-Jürgen Rumpf, Dr. Gallus Bischof


Der Text kommt ziemlich wissenschaftlich daher, mit auf den ersten Blick seriösen Quellen. Aber was heißt schon auf den ersten Blick? Jedenfalls hört man solche Aussagen nicht alle Tage, und vielleicht findet da jemand den Haken an der Sache, oder andere können bestätigen. Wer weiterlesen will surft hier lang ...

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Re: Selbstheilung bei Suchterkrankungen: Ein Erfolgsmodell

Beitragvon DonQuixote » 27. Juli 2013, 01:27

Soderle

Ich hab’s mir jetzt noch ein paar Mal durchgelesen. Wenn das ja stimmt, was die Autoren schreiben, dann ist Baclofen für solche Modelle prädestiniert:

  • Niederschwelliger Einstieg. Keine „Verpsychiatrisierung“, Hausarzt genügt. Hier ein Link, stellvertretend für viele andere.
  • Nicht nur Süchtige, sondern bereits Personen mit riskantem Konsum können profitieren.
Passt wie Arsch auf Eimer,

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Re: Selbstheilung bei Suchterkrankungen: Ein Erfolgsmodell

Beitragvon P4T3R » 14. August 2013, 10:47

Also ich stimme dem oben geschriebenem voll und ganz zu. Aber damit das funktioniert muss man eine andere Denkweise entwickeln, und mit dem was man heute einem ins Kopf einflößt wie "unheilbare Krankheit", "schwere Krankheit", "ohne Ärzte nicht heilbar", "Krebs", "Todkrank", "ohne Therapie und Gruppen nicht heilbar", "Suchtgedächtnis" usw, wird einem niemals möglich sein sich selbst zu heilen, erst wenn man eine ganz andere Sicht der Dinge bekommt, bekommt man auch eine Möglichkeit auf soetwas wie Selbstheilung.

Man muß erst begreifen das es keine Krankheiten gibt, das die Ärzte bis heute nichts heilen können außer in Lebensgefährlichen Situationen einem zu helfen, aber auch nicht auf Dauer solange die Ursache/Konflikt/Shock/Quelle noch da ist. Begreifen das es westliche und östliche Medizin gibt, und die westliche nur den Menschen in Körperteile siziert und dabei die Seele und mit ihr verbundenen Problemen außer acht lässt. Wenn man damit anfängt wird es am Anfang nicht leicht, dafür hat man schon gesorgt, so das unser Denkmuster einfach so manipuliert wurde das wir ohne Ärzte, Kliniken und Medikamenten nicht auskommen, wie auch, wenn man von alles Seiten mit Medikamenten und Werbung bombardiert wird. Hat man Kopfschmerzen oder sonnst irgendwelche Schmerzen dann nimmt man automatisch etwas dagegen, entweder Aspirin, Paracetamol oder andere Wunderpillen, anstatt sich hinzulegen und/oder zu entspannen (es ist schwer aber möglich).

Bild

Ich möchte auf keinen Fall eine Revolution anzetteln, ich möchte nur begreiflich darstellen was man gemacht hat und wieso manche Dinge nicht so auf Anhieb klappen. [twiddle]
It said some lives are linked across time, connected by an ancient calling that echoes throught the ages.


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