Papfl hat geschrieben:Wie sähe die rote Pille aus?
Meiner Ansicht nach ist die „rote Pille“ zunächst mal die Abstinenz. Gelegentlich kursiert ja das „Gerücht“, man könne nach einem halben Jahr wieder an MT oder KT denken, aber so weit will ich jetzt gar nicht gehen. In einem halben Jahr kann sich so viel verändern…es reicht, sich darüber Gedanken zu machen, wenn es soweit ist.
WARUM Abstinenz?
Weil beide Wege – der rein in die Alkoholsucht und der raus aus der Alkoholsucht – sehr viel mit Konditionierung und Lerntheorie zu tun haben.
Wir haben vor langer Zeit festgestellt, dass Alkohol uns gut tut.
WOFÜR jeder von uns individuell den Alkohol benutzt hat, ist egal. Fakt ist: Die Wirkung hat uns etwas gebracht.
Daran haben wir uns gewöhnt. Weil Alkohol so ein „tolles“ ALL-IN-ONE Allroundmittel ist, das ganz viele Bedürfnisse auf einmal befriedigen kann, hat unser „träger“ Körper schon bald gemerkt, dass er sich ja gar nicht mehr so anstrengen muss, um natürliche, körpereigene Arznei herzustellen. Also hat er seine Produktion heruntergefahren oder sogar ganz eingestellt.
Nach vielen Jahren nun merke ich, dass mir der Alkohol nicht mehr gut tut. Weil ich abhängig geworden bin. Weil sich soziale oder gesundheitliche Konsequenzen bemerkbar machen, oder weil der Stoff einfach nicht mehr so funktioniert, wie er soll. Pech für mich, dass mein Körper inzwischen
verlernt hat, wie die alternative, körpereigene Arznei hergestellt wird. Auch die ganzen alten Verhaltensmuster (Stichwort: Neuronales Netz), die Strategien, wie ich mir natürliche Entspannung, natürliche Glücksgefühle, natürliche Abwechslung etc. erzeugen kann, sind eingerostet bzw. zugewachsen.
Hier liegt das größere Problem, denn die körpereigene Arznei kann ich (vorerst) von außen zuführen: Baclofen. Aber alles andere muss ich wieder
ERLERNEN.
Diese Lernprozesse sind individuell höchst verschieden und für manch einen anstrengender als für andere. Das hängt damit zusammen, auf wie viel „Erlerntes von einst“ ich zurückgreifen kann. Was kann ich von früher reaktivieren? Viele haben bereits in jungen Jahren mit Alkohol begonnen und sich ihre Glücksgefühle schon recht früh künstlich erzeugt. Sie kennen also positive Gefühlszustände nur in Kombination mit Alkohol. Viele hatten eine schwere Kindheit, die nicht gerade übermäßig mit Spaß und freudigen Erlebnissen bestückt war, auf was also zurückgreifen?
Es ist nicht hoffnungslos, aber Arbeit. Ich muss meinem Körper und meinem Hirn beibringen, dass ich auch in nüchternem Zustand gut drauf sein kann. Dazu ist es nunmal von Vorteil, abstinent zu sein. Zumindest, bis Körper und Hirn geschnallt haben: Es geht auch ohne Alk!
Lacht jetzt nicht, aber Sex scheint für die Rekonditionierung eine gute Methode zu sein. Als ich vor einigen Monaten in einer Gruppe (Alter 29-43 Jahre, vorwiegend Männer) gefragt habe, wer
in seinem bisherigen Leben schon mal nüchtern Sex hatte, streckten nach reiflicher Überlegung zwei von zwölf. Inzwischen haben einige von ihnen dieses „Versäumnis“ nachgeholt und der Beischlaf scheint ihnen (und auch ihren Partnerinnen!) nüchtern mehr gegeben zu haben als in angetrunkenem Zustand. Da ein Orgasmus ja bekanntlich zu den sehr prägenden Erlebnissen gehört, sind die Auswirkungen im neuronalen Netz entsprechend intensiv und hinterlassen entsprechend tiefe Spuren.
Wie wenig wir uns vorstellen können, dass das Leben auch ohne Alkohol spannend, interessant und lebenswert sein kann, wird nachvollziehbar, wenn man sich ein bisschen mit sog. „Spiegelneuronen“ beschäftigt.
Über „Spiegelneuronen“ können wir uns in andere Menschen hinein versetzen und ähnlich wie sie empfinden. Wenn man zum Beispiel im Fernsehen sieht, wie sich jemand mit einem Messer schneidet, „frösteln“ wir als Zuschauer indirekt mit, wenn die Klinge ein rote Blutspur auf der Haut hinterlässt, obwohl wir ja gar nicht betroffen sind. Aber wir können erahnen, wie schmerzhaft das sein muss.
In punkto Alkohol sind viele von uns nur dürftig mit "Spiegelneuronen" ausgestattet. Dass man bestimmte Dinge auch ohne Alkohol „genießen“ kann, ist uns eher fremd. Folglich können wir auch wenig Empathie für den „Spielverderber“ entwickeln, der inmitten einer Alkohol trinkenden Gruppe mit der Cola in der Hand ausgelassen mitfeiert. Weil wir es schlichtweg nicht nachvollziehen können. Besser funktioniert das z. B. bei spielenden Kindern. Hier können wir eher "innerlich" mitlachen, weil wir ja schließlich auch mal jung waren und (hoffentlich) ähnlich vergnügt umher tollten.
@ Conny fragt:
GoldenTulip hat geschrieben:mir fehlen im Forum die Rubriken, wie es weitergeht ohne die Abkürzung zu nehmen, ich habe Bedarf an Vorbildern/ Austausch über das "wie weiter, was dann"
Das Sammeln solcher nüchternen Episoden gehört dazu.
Papfl