JazzGustls Osterfeuer
Ja, das war eine spontane Aktion von mir, das Osterfest nicht betrunken bei meiner Familie, sondern nüchtern mit ganz anderen Menschen zu verbringen.
Ich helfe, das hatte ich ja schon erzählt, bei einer Musiktherapie mit. Das geht schon länger, fünf oder sechs Jahre, einmal die Woche bin ich da und ergänze die Gruppenarbeit des Therapeuten (der „Asket“) mit meiner fundierten und flexibleren musikalischen Arbeit. Neben mir begleitet eine Gesangslehrerin die Therapie. Da sie mit relativer Solmisation arbeitet, ist der Therapeut, obwohl er für einen Laienmusiker gut ist, technisch überfordert. Was keine Schande ist, diese Technik macht es den Sängern leichter, den Begleitmusikern schwer.
So hat sich dieses musiktherapeutische Dreigestirn über die Jahre etabliert. Der Therapeut macht die tatsächlich therapeutische Arbeit, die Gesangslehrerin kümmert sich um Ausdrucksgesang und -tanz, ich mache den ganzen musikalischen Rest, Begleitung, Arrangements, Komposition und so weiter.
Das macht immer sehr viel Spaß, die „Patienten“ sind ungeheuer dankbar, manche finden über die Musik das erste Mal in ihrem Leben einen Weg, sich auszudrücken, ihre Gefühle mal loszuwerden.
Wir haben schon mehrfach „Werkstattkonzerte“ gegeben, für die Angehörigen.
Jetzt war erstmals ein Konzert mit Jugendlichen aus der Therapiegruppe in einer Kirche geplant, es war auch alles vorbereitet. Ich wurde dafür nicht gebraucht, nur für die Vorbereitung und die Proben. Das war von vornherein klar, ich musste Ostern ja sowieso zur Familie.
Als ich Euch hier am Freitag Morgen geschrieben habe, dass ich am Gründonnerstag wieder ein Fass geleert hatte, kam wenige Minuten später eine Mail vom Therapeuten hier an, der sich nochmal bedankte für die Vorbereitung und wie sehr sich alle auf das Proben- und Konzertwochenende freuen. Und der Satz „Ist wirklich schade, das Du nicht mitmachen kannst!“
Das habe ich gelesen und in dem Moment gewusst, dass ich mitmachen wollte. Musste. Würde.
Ich hab das dann kurz mit meiner Frau besprochen, nach ihrem o.k. (was für sie ja auch bedeutet hat, den Familientreff allein bestreiten zu müssen) habe ich den Therapeuten angerufen und gefragt, ob sie mich nicht doch noch brauchen können, da ich diese Ostern mal Luft bräuchte. Antwort: „12 Uhr in St. Marien! Bis gleich!“ Er ist ein echter Asket, außer seiner Geduld und seiner Nächstenliebe ist alles ziemlich sparsam, auch Worte.
Ich habe also meinen Kram ins Auto geschmissen, und bin da hin. Wir konnten in einem Gebäude der Kirchengemeinde übernachten, essen und proben. Da ich nun auch dabei war, haben wir die Schlafgruppen durch drei geteilt, jeder von uns hatte damit vier Jugendliche zu betreuen. Erwachsene Leiter waren wir drei, der Pfarrer und der Kirchenmusiker. Wir haben eigentlich beinahe rund um die Uhr geprobt, immer wieder auch in der Kirche, um die Wirkung der einzelnen Teile in der Kirchenakustik zu erfahren. Das ist nochmal was anderes, ob Du in einem knochentrockenen Raum arbeitest oder in einer Kirche mit fünf Sekunden Nachhall.
Am Ostersonntag Morgen begann das Konzert, im Osternacht Gottesdienst morgens um fünf. Dunkle Kirche, nur eine Kerze auf dem Altar. Und die Kirche voll bis auf den letzten Platz. Das hätten wir nie erwartet. Die Leute standen in den Gängen und den Kids klopfte das Herz bis zum Hals.
Und dann war da nur noch Musik.
Ich bin kein sonderlich religiöser Typ. Aber wenn in einer stockdunklen, frühgotischen Kirche die ganze Gemeinde mit Dir „Bleibet hier“ singt, die jugendlichen Solisten sich abwechseln, ein drogenabhängiger Jugendlicher singt „Wachet und betet, damit Ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!“, eine seit einem Reitunfall im Rollstuhl sitzende 17jährige singt „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ und zwei todkranke Zwölfjährige, die nach allen ärztlichen Prognosen nie 18 werden, singen „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist!“, dann muss man wohl schon ein Herz aus Stein haben, um nicht tief im Innersten berührt zu werden.
Das ganze löste sich dann, nach fast drei Stunden Musik und Osternachtgottesdienst in dem fast 1000 Jahre alten „Christ ist erstanden, von der Marter alle“ auf. Es war draußen längst wieder hell geworden, drinnen und in den Herzen auch.
„Auferstehung beginnt im Dunkel“ war das Thema des Pfarrers. Wohl wahr.
Das war vermutlich der längste Osternachtgottesdienst nördlich von Rom.
In der langsam heller werdenden Kirche sah ich dann mein Osterwunder: meine Familie war gekommen. Die müssen um drei uhr aufgestanden sein, sonst hätten sie nicht um fünf dort sein können. Meine Frau hat mir dann später erzählt, dass sie denen schlicht das Messer auf die Brust gesetzt hat: „Entweder fahren wir da jetzt hin und Ihr hört Gustls Musik zu, oder das nächste Familientreffen findet nicht nur ohne ihn, sondern auch ohne mich und die Kinder statt!“.
Meine Schwiegermutter nahm mich nach dem Gottesdienst in den Arm (das war, glaube ich, das erste Mal überhaupt) und hat gesagt „Ich wusste ja nicht, was Du bewegst!“
Um ehrlich zu sein, ich auch nicht.
Ich habe wohl tatsächlich einen Engel geheiratet.
Und ich weiß, was ich zu tun habe. Ich bin nicht, wie ich immer dachte, auf Umwegen hierher getaumelt, ich bin genau da, wo ich sein soll.
Ich will nicht behaupten, ich hätte die Arbeit betrunken schlechter gemacht. Nein, sicher nicht, dafür habe ich viel zu viel Übung. Aber auf einer anderen Ebene hat es sich nüchtern besser angefühlt. Echter. „Ich“er.
„Man muss wohl selbst mal kaputtgegangen sein, um uns Kaputte heilen zu können! Danke!“ Annika, 17 Jahre alt, nach dem Gottesdienst.
Danke zurück. Wir diskutieren, wer hier wen therapiert hat, beim nächsten Mal.
Zum Nachhören, wer die Ankerstücke nicht kennt (nicht aus unserem Konzert!!):
Gustl
If the brain were so simple we could understand it, we would be so simple we couldn't. (Lyall Watson)