@Conny hat an anderer Stelle gestern ein paar Zeilen geschrieben, die mich dazu veranlasst haben, diesen neuen Thread zu öffnen:
GoldenTulip hat geschrieben:Und anstatt das zu bewerten, könnte es hilfreich sein, mal zusammenzutragen, was denn eigentlich "triggert", und was eine Stabilität des Nicht-Trinkens bewirken kann, aus den eigenen Erfahrungen heraus. Ressourcen, Resilienz, Perspektiven, Vertrauen . So was in der Richtung.
Wer aufhört zu trinken, steht plötzlich vor einer ganzen Reihe "neuer Probleme". Es wird nämlich (leider) nicht von heute auf morgen alles gut, "nur" weil man nicht mehr trinkt. Schließlich hat man den Alkohol ja für "ETWAS" benutzt, er erfüllte einen gewissen Zweck: Ängste ausschalten, Schmerzen betäuben, verdrängen, verstärken, wegbeamen...Diese Bedürfnisse verschwinden ja nicht einfach so, wenn man nicht mehr trinkt.
Ich glaube, hier liegt ein Stück weit die Krux unseres ganzen Dilemmas. Die Ursache für die Resignation, das Gefühl des "Es-nicht-schaffens", des "Wieder-zur-Flasche-greifens". Weil das alles, was plötzlich ohne die gewohnte "Betäubung" über uns hereinbricht, einfach zu viel ist. Wir machen auf der einen Seite "ein Fass zu", und auf der anderen ein viel größeres wieder auf. Das alles trifft uns meist unvorbereitet und zu einem Zeitpunkt, wo wir die Kraft, an mehreren Fronten zu kämpfen, schlichtweg nicht haben. Dem Alkohol trotzen und gleichzeitig den ganzen Psycho-Wust der vergangenen Jahr(zehnte) aufzuarbeiten, ist übermenschlich, utopisch. Was also tun?
Ich versuche mal zu beschreiben, wie ich's für mich einigermaßen in den Griff bekommen habe. In der Hoffnung, dass andere aus dem Forum, die momentan ganz gut zurechtkommen, ihre Erfahrungen ebenfalls teilen. So zumindest hatte ich @Connys "Aufruf" verstanden und das war auch meine Intention für diesen Thread.
Für mich war von Anfang an klar: Der Entschluss zur Abstinenz (lat.: abstinere, "sich enthalten", "fernhalten") wird erstmal ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung von "Entbehrungen" geprägt sein. Nicht nur dem Verzicht auf Alkohol. Auch die vermeintlichen Rückzugsräume, in die ich mich immer flüchten konnte, wenn ich mich geärgert hatte, wenn ich abschalten wollte, weg vom Alltag, wenn mir was zu viel wurde, wenn ICH MIR zu viel wurde, würden nicht mehr da sein. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Und das muss man bereit sein, in Kauf zu nehmen. Wer glaubt, alles könne erstmal so bleiben wie bisher, nur eben ohne Alkohol, wird scheitern. Für mich hatte es anfangs ein bisschen was von "alles zurück lassen", auf jeglichen Komfort verzichten, sich "nackt" den Tatsachen stellen...ohne Netz und doppelten Boden. Rückblickend gesehen war da gar nicht mehr allzu viel, was ich hätte "zurück lassen" können. Das meiste (soziale Kontakte, gesundheitliche Ressourcen, gesellschaftliches Ansehen, finanzielles Polster,...) war ohnehin schon weg.
Ich hab's als Experiment gesehen. Nicht mehr und nicht weniger. Die Rückfahrkarte immer im Hinterkopf. Wenn's schief geht, ist der Weg zurück in mein altes Leben ja nicht allzu schwer. Einen Supermarkt oder eine Tanke und Hartz-IV gibt's immer. Was allerdings immer ein bisschen "mantra-artig" über mir schwebte (und was am Ende m. E. nachhaltig zum Erfolg des Experiments beigetragen hat) war die Erkenntnis: "Du hast die letzten Jahre nahezu 'schwerelos' (im Sinne von: ohne nennenswerte Schwierigkeiten) verbracht. Jedes mögliche Problemchen hast Du weggetrunken, bevor es überhaupt erst zum Problem werden konnte. Vielleicht ist es wirklich mal an der Zeit, dass Du Dir Dein 'Glücklichsein', Dein 'Wohlbefinden' erarbeitest. So, wie die meisten Menschen."
Und dann bin ich diesen Schritt gegangen. Habe entgiftet. Gekämpft. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und bin doch immer wieder rückfällig geworden. Dabei war ich bereit, so viel in Kauf zu nehmen, zu verzichten, Abstriche zu machen, Dinge "auszuhalten", Leere zu ertragen...und doch zog's mir immer wieder den Boden unter den Füßen weg. <-- physiologisches Craving. Ich war öfter als einmal kurz davor zu sagen: Wenn das andere Leben so aussieht, dann verzichte ich drauf.
Irgendwann habe ich dann Baclofen entdeckt. Und mein Experiment zum x-ten mal wiederholt. Vieles kannte ich schon: Ich habe gekämpft. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, War bereit, so viel in Kauf zu nehmen, zu verzichten, Abstriche zu machen, Dinge "auszuhalten", Leere zu ertragen...Allein: Ich wurde nicht mehr rückfällig.
Mein abstinentes Leben war und ist bis heute kein Zuckerschlecken. So, wie eben das Leben der meisten Menschen kein Zuckerschlecken ist. Ich muss nach wie vor viele "Entbehrungen" in Kauf nehmen. Muss mir meine "Glücksmomente" erarbeiten. Das hatte ich so nie gelernt. Lange Zeit hat mir ein Flaschenöffner dafür genügt.
GoldenTulip hat geschrieben:Jedes "ich trinke weil" möchte ich umkrempeln in ein "wenn ich diese Ausflucht nicht hätte, was täte ich dann am liebsten"
Dieser Ansatz geht m. E. in die richtige Richtung. Die "Leere" und die viele Zeit, die durch das "Nicht-mehr-trinken" entstanden ist, gilt es aufzufüllen. Die Gründe für das Trinken zu analysieren und Alternativen zu finden. Ich habe an anderer Stelle mal überspitzt formuliert, man solle mal überprüfen, wie oft man das Wort "Langeweile" durch "Faulheit" ersetzen kann. Sicher ist es anstrengender, sich das Gitarrrespielen beizubringen oder zur nächsten Sternwarte zu pilgern, um sich glückliche Momente zu erzeugen. Aber die sind echter. Und an das Gefühl, mit einer eigenen Band einen selbst komponierten Song vor Publikum zu spielen, kommt kein Wodkarausch ran. Der Blick vom Gipfel eines Berges ist doppelt so schön, wenn man vorher hochgestiegen ist und nicht den Lift genommen hat. Das ist Arbeit. Keine Frage. Aber das ist Leben.
Wenn man da hin möchte, darf man die Flinte beim ersten bisschen Gegenwind eben auch nicht gleich ins Korn werfen. Und man darf nicht alles auf einmal wollen. Ich habe eingangs geschrieben:
Papfl hat geschrieben:Dem Alkohol trotzen und gleichzeitig den ganzen Psycho-Wust der vergangenen Jahr(zehnte) aufzuarbeiten, ist übermenschlich, utopisch.
Das kann nur Schritt für Schritt funktionieren. Am Anfang reicht es vollkommen aus, sich darüber zu freuen, einen Tag "alkfrei" überstanden zu haben. Und sich vielleicht jeden Tag ganz bewusst eine kleine Freude zu machen. Alles andere kommt. Nach und nach.
Papfl
Nachtrag:
Weil ich jetzt doch wieder etwas weiter ausgeholt habe , hier nochmal @Connys Zitat - der eigentliche Auslöser für diesen Thread:
GoldenTulip hat geschrieben:Und anstatt das zu bewerten, könnte es hilfreich sein, mal zusammenzutragen, was denn eigentlich "triggert", und was eine Stabilität des Nicht-Trinkens bewirken kann, aus den eigenen Erfahrungen heraus. Ressourcen, Resilienz, Perspektiven, Vertrauen . So was in der Richtung.