Neuroplastizität

Benutzeravatar

Thread-Starter
Papfl
Beiträge: 2509
Registriert: 28. Juli 2012, 14:25
Hat sich bedankt: 284 Mal
Danksagung erhalten: 736 Mal
Mann oder Frau?: Ich bin ein MANN

Neuroplastizität

Beitragvon Papfl » 22. Mai 2016, 10:18

Hallo zusammen!

Der eine oder die andere kennt bestimmt meinen Beitrag zu den Trampelpfaden, in dem es unter anderem darum geht, sich - wenn der Alkohol wegfällt - neue Alternativen und Strategien zu "erarbeiten", um trotzdem jene Gemütszustände (wieder) zu erreichen, die einem vorher der Alkohol so scheinbar mühelos verschafft hatte.

Nach jahrelangem Alkoholkonsum gibt es für Probleme jeglicher Art (Angst, Schlafschwierigkeiten, Schmerzen, Stress, "Gut-drauf-sein", Entspannung etc.) für viele nur noch diese eine, vermeintlich bewährte, gut eingefahrene und asphaltierte "Autobahn" (Trinken), über die man möglichst schnell und ohne Umwege ans Ziel kommt. All die anderen kleinen Gassen, Wege und Sträßchen, auf denen man z. B. als Kind oder Jugendlicher gewandert ist (Spielplatz, gemeinsame Unternehmungen mit Freunden, Zoobesuche, Hobbies, Sport etc.), um Spaß, Erfolg, Ausgeglichenheit etc. zu erlangen, sind längst zugewuchert. Bestenfalls sind davon ein paar versteckte "Trampelpfade" übrig geblieben, die es nun wieder freizulegen gilt. Soll heißen: Alte Hobbies wiederbeleben, neugierig werden, Dinge ausprobieren, auch mal andere, versteckte Wege (abseits der "Autobahn") gehen, neue Freundschaften knüpfen, schauen, was einem Spaß macht, was man schon immer mal machen wollte...Kurzum: Die Machete auspacken und die verborgenen Trampelpfade wieder frei schlagen. Das mag anfangs mühsam sein, aber wenn aus den Pfaden erstmal ein Weg, ein Sträßchen und vielleicht irgendwann sogar eine Bundesstraße geworden ist, hat sich die Mühe gelohnt. So kann man sich nach und nach ein neues "Verkehrsnetz" aufbauen, während im Idealfall die alte "Alkohol-Autobahn" langsam zuwuchert und in Vergessenheit gerät.

Wissenschaftlich spricht man da von Neuroplastizität. Womit ich beim eigentlichen Grund für diesen Beitrag bin: Christian Ankowitsch beschreibt genau diese Neuroplastizität in seinem Buch "Warum Einstein niemals Socken trug" auf sehr kompakte und anschauliche Weise. Und zeigt auf, dass es sich dabei längst nicht mehr um eine "Wunschvorstellung" handelt, sondern dass es tatsächlich möglich ist, eingefahrene Verhaltensweisen in unserem Gehirn quasi zu "löschen" bzw. zu "überschreiben" und alternativ zu lernen, neue Wege zu gehen.

Christian Ankowitsch hat geschrieben:Die gute Nachricht lautet, dass unser Gehirn kein in Stein gemeißeltes Organ ist, mit dessen Konstruktion und Fehlern wir uns abfinden müssten. Ganz im Gegenteil. Unser Gehirn weist, wie das in der Fachsprache heißt, hohe «Neuroplastizität» auf, ist also veränderbar bis ins hohe Alter. Je nachdem, wie stark und häufig es herausgefordert wird – es reagiert darauf. Ununterbrochen. Egal, wer diese Herausforderungen formuliert, wir selber, die Universität, die Familie, unsere Freundschaften, unser Freizeitvergnügen, soziale Netzwerke. Vorbei die Zeiten, da man glaubte, wir würden mit einem Grundkapital an Hirnmasse und Gehirnzellen geboren, das wir ein Leben lang hüten müssten wie ein gut gefülltes Konto, weil wir im Lauf der Zeit immer mehr davon abbuchen würden, bis am Ende unseres Lebens nichts mehr vom Grundkapital übrig sei.

Vielmehr bilden sich sekündlich neue neuronale Netze in unserem Kopf. Und zwar nicht, wie uns die Vertreter der «Gehirnjogging»-Programme glauben machen wollen, indem wir uns an immer komplizierteren Denksportaufgaben versuchen (wie an immer schwereren Hanteln), sondern indem wir uns bewegen, sinnliche Eindrücke sammeln, neue Erfahrungen machen und nachdenken. «Erfahrungen werden niedergelegt im Netzwerk seiner Neuronen. (…) Muster des Erlebens und Verhaltens, die wir beleben, werden verstärkt in den Neuronenschaltkreisen niedergelegt und damit verkörpert», wie Christian Gottwald daher auch schreibt. Wir müssen uns das Gehirn mit seinen sehr vielen Nervenzellen und seinen noch viel zahlreicheren Synapsen als «work in progress» vorstellen. Es wird nie fertig und erfindet sich gemäß aktuellen Herausforderungen immer wieder neu. Daher sei es auch so wichtig, womit wir unser Gehirn beschäftigen. Also «wie wir uns bewegen, was wir wahrnehmen, wie wir denken und was wir fühlen». Denn, so Christian Gottwald: «Je häufiger eine Erfahrung gemacht wird, desto mehr prägt sie sich in den neuronalen Verbindungen aus.»*

Was im Umkehrschluss nur bedeuten kann: All jene Muster, die wir nur gelegentlich nutzen, verblassen – die zitierten Kopplungen lösen sich langsam auf. Eine Nachricht, die je nach Kontext gut oder schlecht für uns klingen wird. Handelt es sich um Muster, die uns wünschenswert erscheinen, wie zum Beispiel die Fähigkeit, gedeihlich mit anderen zusammenzuleben, werden wir deren Verlust bedauern (wie es älteren Menschen manchmal geschieht, die ihre sozialen Kompetenzen verlernen). Handelt es sich hingegen um das Muster, auf Stresssituationen mit hängenden Schultern zu reagieren, werden wir dessen Verblassen sehr begrüßen.

*Gottwald, Christian (2005). Bewusstseinszentrierte Körperpsychotherapie – angewandte Neurobiologie? In Serge K. Sulz, Leonhard Schrenker & Christoph Schricker (Hrsg.), Die Psychotherapie entdeckt den Körper (S. 105-198). München: CIP Medien.

Und etwas später macht Ankowitsch Neuroplastizität noch an zwei Beispielen deutlich:

Christian Ankowitsch hat geschrieben:Für die These von der Neuroplastizität unseres Gehirns gibt es eine Unzahl von Belegen. Ich will nur auf einen davon verweisen, der mir besonders eindrucksvoll erscheint. So haben Untersuchungen gezeigt, dass sich das Gehirn von glücklichen jungen Müttern schnell verändert. Bereits drei bis vier Monate nach der Geburt des Kindes habe sich «ein signifikanter Anstieg des Volumens von grauer Substanz in mütterlichen Gehirnen» nachweisen lassen. Und nicht nur das: Es sei interessant, schreiben zwei damit befasste Wissenschaftlerinnen, dass die Reorganisation des Gehirns während der Elternschaft «zum Teil die positive mütterliche Einstellung und die Bindung zu ihrem Kind während dieser Zeit widerspiegeln»

Da mutet das Phänomen, dass sich unser Gehirn restrukturiert, wenn wir uns den Arm brechen und ihn daher eine Zeitlang nicht bewegen können, ungleich trivialer an. Auch wenn dieses Beispiel zeigt, dass unser Gehirn auf jede Herausforderung eine Antwort zu geben versucht. Und meist auch gibt. So haben Schweizer Neuropsychologen von der Universität Zürich im Jahr 2012 nachgewiesen, dass bereits sechzehn Tage nach der Ruhigstellung des gebrochenen rechten Arms die entsprechenden Gehirnareale um rund zehn Prozent schrumpften. Während sich jene Bereiche, die für den nun deutlich stärker geforderten linken Arm zuständig waren, merklich vergrößerten.

Papfl
„Der Hori­zont vie­ler Men­schen ist wie ein Kreis mit Radius Null. Und das nen­nen sie dann ihren Stand­punkt."
Albert Ein­stein (1879 - 1955)

Zurück zu „Diverses aus der medizinischen und psychologischen Suchtforschung“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 0 Gäste