Den Absprung "verdienen"

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freiheit
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Den Absprung "verdienen"

Beitragvon freiheit » 20. August 2016, 09:03

Hallo

Ich bin Lutz und seit 16 Jahren rückfallfreier, trockener und mittlerweile auch nüchterner Alkoholiker. Meine ca. 10 Jahre lange Karriere als Spiegeltrinker habe ich nach einer katastrophalen Diagnose in einer Uniklink abrupt beendet. Nach meiner Entlassung aus der Klinik bin ich den klassischen Weg über eine Beratungsstelle gegangen, mit deren Unterstützung ich dann eine Therapie beantragt und durchgezogen habe. Somit bin ich den klassischen "old school" Weg gegangen, den die meisten von Euch kennen.

Nach 1 Jahr Trockenheit begann bei mir das Craving erneut, und wie aus heiterem Himmel stellten sich bei mir heftige Entzugserscheinungen ein. Die Situationen, bei denen diese Entzugserscheinungen eintraten, waren zwar unterschiedlich, aber es waren immer Situationen heftiger Emotionen, die das Craving auslösten. Ob nun Beerdigungen, Hochzeiten, Geburtstage, Referate halten u.v.a.m., ansatzlos kamen das Craving.
Beklemmungen, Unruhe, heftiges Schwitzen, Herzrasen, zitternde Hände und all die anderen bekannten Enzugserscheinungen stellten sich dann ein, und ich war damals masslos enttäuscht darüber.

Mein Hausarzt, der alles über meine Alkoholsucht wusste und mich meinen ganzen Weg über wie ein Freund begleitete, hörte mir zu, als ich ihm mein Problem mit den Entzugserscheinungen schilderte. Er nannte das Craving beim Namen und meinte mir, dass ich das nicht aushalten müsse, sondern das es u.a. ein Mittel gab, dass diese Entzugserscheinungen mildern könne. Das Mittel hiess Campral, und ich bekam das Präparat. Ich hatte dann dieses Mittel in Tablettenform immer bei mir in meinem Portemonnaie, und es gab mir allein dadurch, dass ich es mitführte, mehr Sicherheit. Dem Craving war ich nicht mehr schutzlos ausgeliefert, sondern ich konnte etwas nehmen.

Der Effekt war dann der, dass ich den Attacken gegenüber immer sicherer wurde und immer besser mit ihnen umgehen konnte. Campral habe ich nie benutzt, ich kann also über die chemische Wirkung nichts sagen, aber der psychologische Effekt war da! Mein Suchtdruck hat mich dann noch ca. 2-3Jahre begleitet, schwächte sich aber zunehmend ab. Heute sind es nur noch 2-3 Attacken im Jahr, die ich abfedern muss und abfedern kann, denn diese Heftigkeit wie am Anfang erreichen sie nicht mehr.

Warum schreibe ich das alles auf? Heute denke ich über meinen Ausstieg aus der Alkoholsucht ganz anders als am Anfang. Meinen Entzug, meine Therapie, meine Suchtdruckattacken, meinen ganzen Weg als trockener Alkoholiker habe ich durchgezogen ohne eine chemische Krücke einzunehmen, und diese Gewissheit, alles, aber auch alles durchgestanden zu haben ohne Chemie macht mich sicher. Ich habe es mir selbst bewiesen, dass ich so stark bin, allen Situationen zu begegnen, und jetzt schwingt etwas Stolz mit.

Ja, ich habe meinen Hausarzt um Hilfe gebeten, und er hat mir geholfen. Ja, ich hatte eine chemische Krücke bei mir, und ich habe sie nicht genommen, weil ich mir selbst helfen wollte. Das Vorhandensein des Mittels hat mir geholfen, nicht die Einnahme. Ich wollte frei sein, und ich bin frei!

Ich denke nicht daran, jemanden wegen der Einnahme von chemischen Hilfsmitteln zu verurteilen. Was ich ausdrücken möchte, ist, dass mein Erfolg ganz alleine mir gehört, da ist nichts, womit ich meinen Erfolg schmälern lassen müsste.



Ich wünsche allen Lesern viel Kraft!

Lutz

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APunkt
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon APunkt » 20. August 2016, 10:15

Hallo Lutz!

Herzlichen Glückwunsch zu Deiner Freiheit!
Du bist damit jemand, der zu den (je nach Studie) 10 bis 25% derjenigen gehört, die mit Hilfe dieser klassischen Methode ihren Ausstieg finden.
Die anderen 75-90% sind wiederholt rückfällig, profitieren nicht dauerhaft von der klassischen Therapie und tragen dann zusätzlich zu ihrer fortschreitenden und lebensbedrohlichen Krankheit Schuldgefühle, Stigmata und eine internale Versagensüberzeugung mit sich herum
Ich weiß nicht, ob diese Leute ihre Gesundheit nicht "verdienen"?
Meiner Ansicht nach tun sie es und es ist eine selbstverständliche Aufgabe der Gemeinschaft, ihnen zu helfen.

Das ist - wie bei anderen Krankheiten völlig selbstversändlich - in der Versorgung Abhängiger leider nicht der Normalfall, dabei wäre mit Hilfe von Baclofen ein Ausstieg auch für diese Patienten möglich, mindestens wird er wahrscheinlicher.

Nach erfolgreicher Überwindung des biochemischen Ungleichgewichtes mit dem Medikament ist dann die normale Therapiearbeit möglich und nötig - und kann so auch zu dauerhaftem Erfolg für weit mehr Patienten führen, als die klassische Methode allein.

Viele Grüße
A.
"Everyone wants to be Cary Grant. Even I want to be Cary Grant." (Cary Grant)

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon Chinaski » 20. August 2016, 10:18

Hallo Lutz
Vielen dank das du deine Erfahrungen mit uns teilst .
Das du es schon so lange geschafft hast trocken zu bleiben ist eine tolle Leistung.
Gut das du das Medikament Campral nicht nehmen musstest denn es ist Wirkungslos!
Du hättest dir auch 2 Flaschen Mineralwasser hinstellen können und bei Bedarf trinken können.
Der Effekt wäre der selbe gewesen.
Was hast du sonst noch so unternommen um Abstinent zu bleiben?
Selbsthilfegruppe - Therapie - eiserne Wille o.ä.?

Was ich nicht ganz verstehe ist dein Thread Titel.
Den Absprung "verdienen"
Wie verdient man sich denn den Absprung und gibt es Alkoholkranke die den Absprung nicht verdient haben?
Alles gute!
Chinaski

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Benno
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon Benno » 20. August 2016, 13:03

Hey Lutz.

Finde es toll das du es geschafft hast. Es hört sich auch nach harter Arbeit an. Ich weiß nicht ob ich es auf diesem Weg schaffen würde. Ich denke nicht. Deswegen bin ich froh das es für mich bzw. für Menschen wie mich auch medikamentöse Unterstützung gibt.

Aber es freut mich wirklich zu hören das es diese 10% oder ein klein wenig mehr Menschen tatsächlich gibt.


LG
„Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.“

Edmund Burke

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon timmbb » 20. August 2016, 14:20

Moin Lutz,

Soll das jetzt im Umkehrschluss bedeuten, dass Leute, die mit Baclofen abstinent leben, dies, in Deinen Augen, garnicht "verdient" haben?

Falls ja, könntest du ein wenig frische Luft gebrauchen [meise]
Morgens Elmex abends Aronal. Heute riskiere ich mal was [dance] .

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freiheit
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon freiheit » 20. August 2016, 14:58

Hallo

Gerne möchte ich die Fragen beantworten.

Als nasser Alkoholiker war ich beherrscht von meiner Gier nach einer Substanz. Alkohol ist eine chemische Flüssigkeit, mit der ich mir, sobald ich sie mir in den Körper geschüttet hatte, eine volllkommen andere Persönlichkeit zulegte als ich in Wirklichkeit war. Der Erfolg war innerhalb von Minuten spürbar, und je öfter ich trank, umso weniger konnte ich mit dem nüchternen Lutz umgehen. Ich bin mir sicher, dass dieses hier vielen bekannt ist.

Die alkoholisierte Persönlichkeit Lutz wurde zur Gewohnheit, meine Selbstsicherheit, meine Schlagfertigkeit, all meine Fähigkeiten kamen immer öfter und am Schluß nur noch dann ans Tageslicht, wenn ich getrunken hatte. Am Ende funktionierte selbst das Trinken nicht mehr.Auch dieses ist hier vielen bekannt.

Jetzt zu dem Wort verdienen: Ich habe mir diese alkoholisierte Persönlichkeit Lutz verdient, weil ich getrunken habe. Sie beherrschte mich, und der normale Mensch Lutz war nichts anderes als ein nur zu bereitwilliges Wesen dafür. Es war so leicht, zu trinken. Es war noch leichter, alle Warnungen in den Wind zu schlagen. Das ganze habe ich bis zur vollständigen Selbstaufgabe getrieben, mein Leben war mir mittlerweile egal. Selbst die herrschende alkoholerzeugt Persönlichkeit Lutz konnte diese Scham und den Verfall am Ende nicht mehr kaschieren.

Ich hatte es mir verdient, so zu werden. Niemand hat mich zum Trinken gezwungen, das war ich ganz alleine. Es wäre meiner Ansicht nach vollkommen falsch und unwahr, wenn ich dem Alkohol, der Gesellschaft und/oder meinem Umfeld diese Last und Verantwortung aufbürden würde.

Nach meinem Entzug und schon während meiner Therapie habe ich erkennen müssen, wie sehr ich verantwortlich war für das, was ich mir angetan hatte. Um daraus herauszukommen, musste ich mir jede Minute, jede Stunde und jeden Tag der Trockenheit verdienen. Nur diente ich diesmal keiner Persönlichkeit, die aus der Einnahme einer chemischen Substanz resultierte, sondern dem Menschen Lutz.

Das es hart war, das kennen hier sehr viele, da bin ich mir sicher.

Jeden Minischritt habe ich mir da verdient, und jeder Minischritt war umso härter, je leichter mir der umgekehrte Minischritt in meine Alkoholsucht gefallen war.

Das meine ich mit verdienen. Ich musste mir meine trockene Persönlichkeit zurückholen, sie mir zurückverdienen.

Dieses ist meine Einstellung, und sie gilt für mich. Sie muss keinesfalls für irgendjemanden Anderes gelten.

Ich entscheide nicht, ob jemand seine Trockenheit verdient, dass muss er ganz alleine für sich entscheiden.

Jeder hat ein RECHT darauf, ohne Alkohol auszukommen. Steckt jemand in seiner eigenen Alkoholfalle, dann muss er kritisch hinterfragen, warum es so ist. Hat er sich seine Sucht so verdient wie ich damals...oder waren es andere, die ihm das angetan haben? Selten werden es andere sein, die die Verantwortung für die eigene Alkoholsucht haben.

Will er dann Hilfe bekommen und annehmen, dann ist es natürlich die Pflicht der Gesellschaft, ihn nach Kräften zu unterstützen. Unterstützen ja, aber nicht die Verantwortung übernehmen.

Meine Unterstützung habe ich mir geholt durch meinen Hausarzt, der Therapie und der Selbsthilfegruppen. Von den unterschiedlichen Gruppen habe ich verschiedene ausprobiert, wobei ich dann in einer Gruppe hängen geblieben bin, der ich nun seit 14 Jahren angehöre.

Erstgespräche mit Betroffenen und Angehörigen führen wir sehr oft, und ich stimme denjenigen zu, die da sagen, dass ein Hilfsmittel wie Baclofen die Durchlässigkeit in Gesprächen bei Betroffenen aus dem Grunde erhöht, weil diese Betroffenen nicht unter brachialem Suchtdruck leiden. Dem kann ich gut folgen, sehe aber auch die Gefahr, dass wieder eine Substanz im Spiel ist, auf die ich meine ureigenste Verantwortung wie einst beim Alkohol ablegen kann. Bei dem Alkohol habe ich versagt, das habe ich bewiesen. Wie wird es dann mit einem Mittel sein, das ich genauso einfach einnehmen kann?

Vielen Dank für's Lesen!

Lutz

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DonQuixote
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon DonQuixote » 20. August 2016, 17:22

Hallo Lutz

Ich erkenne da zwei Sichtweisen, die sich fundamental unterscheiden. Zunächst die Deine:

Lutz hat geschrieben:Jetzt zu dem Wort verdienen: Ich habe mir diese alkoholisierte Persönlichkeit Lutz verdient, weil ich getrunken habe. (…) Ich hatte es mir verdient, so zu werden. Niemand hat mich zum Trinken gezwungen, das war ich ganz alleine. Es wäre meiner Ansicht nach vollkommen falsch und unwahr, wenn ich dem Alkohol, der Gesellschaft und/oder meinem Umfeld diese Last und Verantwortung aufbürden würde.

Wir hingegen gehen von einer Alkoholkrankheit aus, so wie sie in den Diagnosesystemen ICD-10 (F 10.2) oder DSM-IV (303.90) beschrieben wird. Dass Alkoholismus eine Krankheit ist, ist in der Medizin seit über Vierzig Jahren unbestritten, in der Gesellschaft wird das allerdings noch nicht immer anerkannt, und so kommt es eben zu Einschätzungen, dass der Patient seine Krankheit „verdient“ oder in anderen Worten selbst dran schuld ist.

Es tut gut, von Lebensläufen wie dem Deinen zu lesen. Und mehr noch: Dass Alkoholabhängige Ihre Krankheit sogar ganz ohne irgendeine Therapie überwinden, kommt gar nicht so selten vor. Doch für die große Masse der Patienten bedeutet ihre Krankheit Leiden und frühzeitiger Tod. Nach aktuellen Schätzungen gibt es in Deutschland zwischen 1,3 und 2,5 Millionen alkoholabhängige Menschen, was jährlich zu 70`000 vorzeitigen Todesfällen und zu einem volkswirtschaftlichen Schaden von 20 Milliarden Euro führt (Quelle: Wikipedia).

Die Erfolge bisheriger Therapien sind äußerst bescheiden. @APunkt gibt die Erfolgsquote weiter oben mit „(je nach Studie) 10 bis 25%“ an. So aus dem hohlen unwissenschaftlichen Bauch heraus würde ich das eher am unteren Rand ansiedeln, wenn überhaupt. @APunkt: Es wäre toll, wenn Du mal für uns ein paar solche Studien heraussuchen könntest, denn um diese Zahlen gibt es immer wieder mal Diskussionen. Den Erfolgsausweis der Selbsthilfeorganisation „Anonyme Alkoholiker“ gibt es hier, von „Blaues Kreuz“ konnten wir bisher keine Zahlen finden.

Lutz hat geschrieben:Das meine ich mit verdienen. Ich musste mir meine trockene Persönlichkeit zurückholen, sie mir zurückverdienen. (…) Ich entscheide nicht, ob jemand seine Trockenheit verdient, dass muss er ganz alleine für sich entscheiden. (…) sehe aber auch die Gefahr, dass wieder eine Substanz im Spiel ist, auf die ich meine ureigenste Verantwortung wie einst beim Alkohol ablegen kann. Bei dem Alkohol habe ich versagt, das habe ich bewiesen. Wie wird es dann mit einem Mittel sein, das ich genauso einfach einnehmen kann?

Wenn es ein Medikament gäbe, welches man „einfach einnehmen kann“, um seine Alkoholkrankheit zu überwinden, dann wäre das ein Segen. Ein solches Medikament gibt es aber nicht, auch Baclofen kann das nicht leisten. Die Alkoholkrankheit hat diverse, oft ineinander verflochtene Ursachen genetischer, physiologischer, sozialer und psychologischer Natur, und deshalb muss man auch bei der Überwindung der Krankheit meist auch auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Voraussetzung einer solchen „Arbeit an sich selbst“ ist jedoch in erster Linie, dass man mal nüchtern (von Alkohol) über seine Situation nachdenken respektive kommunizieren kann, und da spielt die Unterdrückung des Cravings (Suchtdruck) eine ganz wichtige Rolle. Baclofen ist dabei eine hervorragende Hilfe.

Bildlich ausgedrückt:

Bild(Bildquelle)

Und dann noch ein kleines Teilzitat:

Lutz hat geschrieben:(…) sehe aber auch die Gefahr, dass wieder eine Substanz im Spiel ist.

Chronische Krankheiten, und Alkoholismus ist eine solche, bedingen eben, dass Medikamente über eine lange Zeit oder sogar lebenslang eingenommen werden müssen. Niemand würde dabei Patienten, welche z.B. unter Diabetes oder Bluthochdruck leiden, „Tablettensucht“ oder „Abhängigkeit von einer Substanz“ vorwerfen.

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon andi » 20. August 2016, 18:29

Hallo Lutz,

vielen Dank für deinen Bericht. Alle Achtung vor deiner langen (zufriedenen) Abstinenz, oder besser formuliert - Substanzfreiem Leben.

Aber! Baclofen macht ja nicht abhängig, sondern die Betroffenen haben es selbst in der Hand, ob sie jetzt das Medikament nach einem, sechs oder 12 Monaten absetzen und es ohne Unterstützung versuchen. Klar ist es besser, ohne - und hier sehe ich wieder eine Aber!, wie kommen Sie anschließen mit evtl. wiederkehrendem Craving zurecht.

Hier sind auch die Lebensumstände mehr oder weniger ausschlaggebend, wie man damit zurecht kommt. Ich für meinen Teil könnte eigentlich Baclofen absetzen innerhalb von ca. einer/zwei Wochen, schön langsam, hab aber doch etwas Angst vor dem Craving (die Vergangenheit hat es mir gezeigt). Daraus resultiert für mich die Frage, will ich das wirklich, mich dem evtl. stark wiederkehrendem Verlangen nach Alkohol auszusetzen? - NEIN! Also behalte ich Baclofen soweit bei wie jetzt und bin abstinent, sprich cravingfrei.

lg
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APunkt
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon APunkt » 20. August 2016, 21:11

Hallo DonQuixote!

DonQuixote hat geschrieben:@APunkt: Es wäre toll, wenn Du mal für uns ein paar solche Studien heraussuchen könntest, denn um diese Zahlen gibt es immer wieder mal Diskussionen.


Ich habe mich oben auf diese Zusammenfassung eines 9-Jahres-Follow-Up vom Max-Planck bezogen.

Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin hat geschrieben:Bisher gibt es nur wenige und widersprüchliche Studien, die sich mit den langfristigen Ergebnissen von Alkoholismustherapien beschäftigen. (...) zeigen objektive Laboranalysen, dass nur sechs bis 20 Prozent der Patienten zwei Jahre nach Therapieende wirklich abstinent sind. (


"Widersprüchlich" ist hier das Wort der Stunde, daran hat sich in den zehn Jahren, die diese Studie auf dem Ast hat, leider nicht viel geändert nach meiner Kenntnis.

Es ist schon allein bemerkenswert, welche Studien es nicht gibt in diesem Zusammenhang.
In Verbindung mit Medikation findet sich hier und dort was, wie oben z.B mit Alkoholaversiva, Naltrexone oder Disulfiram, dabei werden dann gern noch die Alkoholiker komplett unter drug-addicted subsumiert, was meiner Meinung nach den unterschiedlichen Drogen methodisch nicht unbedingt gerecht wird (z.B. Stichwort Verfügbarkeit).
Nebenbei: so weit ich das auf den ersten Blick gesehen habe, ist die Verbindung von Medikament X plus Psychotherapie eigentlich immer erfolgreicher als die Kontrollgruppe mit Psychotherapie allein.

Aber ein simples 2-Jahres-Follow-Up nach Ende Treatment einer ganz normalen deutschen Entwöhnungstherapie? Nicht wirklich so dolle viel am Markt scheinbar. Warum das so ist, kann ich nur raten. An zu geringer Zahl möglicher Versuchspersonen oder Treatments kann es eigentlich nicht liegen.

Eine löbliche Ausnahme habe ich von Soyka et al (2003) LMU München, gefunden, zudem mit 56% Abstinenzquote nach einem Jahr auch mit sehr gutem Ergebnis.

Auch ganz nett ist diese Studie, die im Wesentlichen auf die positiven Aspekte von aktiver Mitarbeit in Selbsthilfegruppen geht, wobei der Anteil, der selbst aktiv anderen Betroffenen hilft, deutlich seltener rückfällig wird (aber immernoch zu 60% innerhalb eines Jahres) - das bestätigt indirekt ja auch der Threadstarter.

National Center for Biotechnology Information hat geschrieben:Approximately 75% of the study sample experienced a relapse in the 12 months following treatment, a rate that was significantly lower in the aftercare arm (66%) than in the outpatient arm (82%; Wilcoxon χ2 = 78.5, 1 df, p < .0001). These rates are similar to those found in the original sample (N = 1,726) (...) 40% of participants avoided taking a drink in the year after treatment, whereas, among those who were not helping other alcoholics, only 22% avoided taking a drink. Differences in relapse rates between those helping other alcoholics and those not helping others were found in both study arms, although findings were more pronounced in the aftercare arm (Wilcoxon χ2 = 8.6, 1 df, p = .003) than in the outpatient arm (Wilcoxon χ2 = 4.7, 1 df, p = .03)..


So weit erstmal.
Ich kann da gern mehr raussuchen, wenn das gewünscht wird. Dauert aber ein bisschen, ich bin bis Mitte September noch reichlich eingebunden und mit dem Kopf in ganz anderen Themen.

Viele Grüße
A.
Folgende Benutzer bedankten sich beim Autor APunkt für den Beitrag:
DonQuixote (20. August 2016, 21:18)
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freiheit
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon freiheit » 21. August 2016, 08:22

Hallo

Ich kenne die Angst vor dem Craving. Ich kenne die panischen Ängste während einer Cravingattacke. Sie sind real da, und diese Explosion an negativen physischen und psychischen Auswirkungen während einer Attacke sind die schlimmste Bedrohung für mich gewesen.

Wo unterscheide ich mich von Euch? In nichts. Ich habe um ein Mittel gefragt, dass mir das Durchhalten einer solchen Attacke erleichtert. Ich habe dieses Mittel (Campral) bekommen, dann aber nie eingesetzt. Dass es sowieso wirkungslos gewesen wäre, das habe ich auch erst viel später und auch hier erfahren.

Warum habe ich nach einem Mittel gefragt? Nach über einem Jahr Trockenheit begannen diese Attacken, und ich hatte sehr starke Zweifel an mir selbst, ob ich diesen heftigen Attacken widerstehen kann. Genau das lese ich hier auch, und ich nehme jeden, der an sich und seiner Stärke, solch eine Attacke durchzustehen, zweifelt, sehr ernst.

Nochmal: Ich kenne das alles aus dem effeff.

Meine Attacken wurden und werden durch Gefühle ausgelöst. Die Art der Gefühle spielte keine Rolle, es war und ist so, dass ich wesentlich sensibler bin als trockener als als nasser Alkoholiker. Wir nennen es: Uns fehlt eine Haut. In Wirklichkeit war es so, dass ich mich nicht mehr mit Alkohol betäuben konnte und es auch nicht mehr wollte. Mir ist bewusst, dass ich mich mit meiner Anfrage bei meinem Hausarzt nach einem Mittel zur Unterstützung in die andere Richtung bewegte.

Warum habe ich dann das Mittel nicht genommen? Ich wollte es doch haben, ich war sicher, ohne Mittel würde ich diese Attacken nicht durchstehen, die Kraft hätte ich ganz einfach nicht.

Dazu möchte ich Euch in ein Beratungs/Erstgespräch mitnehmen, dass ich führte, obwohl ich dafür noch nicht bereit war. In unserer Gruppe wird immer 1 Stunde vor dem Gruppenabend der Tisch angedeckt für Kaffee und Tee. Zudem sind Beratungsgespräche für Betroffene und Angehörige in diesem Zeitraum möglich. Wenn jemand ein Gespräch möchte, dann hat er hier die Möglichkeit. Aus diesem Grund sind es immer 2 Mitglieder unserer Selbsthilfegruppe, die diese Andeckstunde verrichten, 1 erfahrenes langjähriges Mitglied und ein "neuer", der dann bei einem Erstgespräch das Andecken alleine fortführt. Ich war das neue unerfahrene Mitglied. Meine Kollegin kam aber nicht, weil sie, wie sich später herausstellte, diesen Termin bei sich falsch eingetragen hatte.

Die Kaffemaschinen liefen auf Volldampf, und ich war dabei, das Tablett mit dem Geschirr zu befüllen, als ich unten Stimmengemurmel hörte. Es waren eine Frau und ein Junge im Alter so um die 4 Jahre, die die Treppen hochkamen. Der Junge zählte die Stufen, das weiss ich noch genau, und er war richtig stolz auf sich. Die Mutter versuchte, den kleinen Steppke zu bändigen, was ihr aber nicht so ganz gelang. Da ich in der Küche war, schaute ich aus der Tür heraus und begrüsste sie mit einem Hallo.

Ich stellte mich vor, und sie nannte mir ihren Namen und den ihres Jungen. Ich bat sie um 5 Minuten Zeit, um schnell anzudecken. Sie half mir dann dabei, und in mir wuchs die Unruhe, weil meine Kollegin immer noch nicht da war.
Als wir angedeckt hatten, da habe ich sie und ihren Jungen dann in das Beratungszimmer gebeten, wo wir uns dann hinsetzten. Kaffee, Kakao und Kekse standen bereit, nur ich war alles andere als bereit. Meine Unruhe wuchs, und ich spürte schon die ersten Anzeichen einer beginnenden Attacke. Schweiss trat auf meine Stirn und Nacken, und ich bekam das irrwitzige Gefühl, dass ich krampfen könnte. Pure Angst also.

Ich sah sie genauer an, und mein erster Eindruck bestätigte sich. Sie war grau, ihr Gesicht und ihre Kleidung war grau, nicht von der Farbe her, sondern von ihrer Ausstrahlung. Ihr Geruch war mir bekannt, sie roch ganz stark nach einem Raucher, der sich die Kippen aus dem Aschenbecher nimmt und diesen Tabak ein 2. Mal verwendet. Das hatte meine Mutter auch getan, denn in unserer Familie gab es auch sehr wenig Geld, weil mein Vater, ein schwerer Alkoholiker, alles vertrank. Ihre Finger waren an den Stellen gelb, und ich fragte, ob sie rauchen wolle. Ich besorgte einen Aschenbecher und bot ihr meinen Tabaksbeutel an.
Um den Einstieg in das Gespräch zu bekommen, habe ich sie auf die absolute Diskretion, die in unserer wie in allen anderen Gruppen auch gilt, hingewiesen.
Dann bot ich ihr an, zuerst einmal von mir etwas zu erzählen, wer und was ich bin, oder aber wenn sie wolle, könne sie auch beginnen. Diese Entscheidung nahm uns der kleine Steppke ab, indem er sagte: "Papa haut!"

Ich wusste sofort, was das für diese beiden Menschen bedeutete. Mein Vater hatte das getan, er schlug meine Mutter und uns, wenn er betrunken war, und ich war kein Stück besser gewesen, wenn ich betrunken war.

Die Situation eskalierte für mich zu einem Albtraum. Ich schämte mich fürchterlich für ihren Mann und für mich, meine Attacke hämmerte mir ein: Steh auf und geh weg! Du kannst das nicht!!!!!! Es waren nur mm, die mich davon trennten, dieser Frau zu sagen, dass ich nicht in der Lage wäre, dieses Gespräch zu führen.

Ich war ein so nasser Alkoholiker in diesem Moment, wie es ein nasser Alkoholiker nur sein konnte. Alles in mir schrie: Flucht! All mein Wisssen über Alkoholsucht und Alkoholkrankheit (das wussten wir damals schon, dass die Alkoholkrankheit anerkannt war), die tollen Theorien und Studien, die bis zur Bewusstlosigkeit und Verblödung in der Gruppe diskutiert wurden, die noch tolleren Hilfsmittel...nichts von alledem war da, um mir diesesn Moment zu erleichtern.
Es war nur diese Frau mit ihrem Kind und ich in diesem Raum.

Sie sah mir an, dass es mir nicht gut ging, und ich sagte es ihr dann auch, wie ich mich fühlte. Ich sagte ihr, dass ich die Situation häuslicher Gewalt durch den alkoholsüchtigen Vater kenne, und dass ich auch zu Gewalt neigte, wenn ich betrunken war. Ich sagte ihr, dass ich verstehen könnte, wenn sie nicht mit mir reden wolle. Sie hakte nach und stellte die Frage nach dem Warum. Warum machen Menschen diese unbeschreiblich verletztenden Sachen, wenn sie unter dem Einfluß von Alkohol standen.

Diese Frage gab mir die Chance, meine Erfahrungen zu erzählen. Ich versuchte dann, ihr zu erklären, wie ich manipulierte als Trinker, woher meine rasende Eifersucht kam, wieso mir die Familie, der Job, das Haus und alles um mich herum in die Bedeutungslosigkeit versank. Ich reduzierte all mein Wissen auf mein wahrheitsgemässes Empfinden. Nichts als die nackte Wahrheit hatte ich in diesem Moment zur Hand, und während meiner Schilderungen hakte sie oftmals nach, weil die geschilderten Situationen ihr bekannt waren, sie aber nicht verstanden hat, warum ein Trinker so unberechenbar tickt in diesen Momenten.

Ich bekam mich in den Griff, der Sturzbach an Schweiss liess nach, der unbändige Wunsch, aus dieser Situation herauszuflüchten war weg, die Angst war verflogen.

Wir unterhielten uns dann noch lange über die Möglichkeiten, die sie hätte, wo sie weitere Hilfe und Unterstützung bekommen würde usw.
Am Ende waren wir sehr erschöpft, und als sie sich bedanken wollte für das Gespräch, da habe ich ihr gesagt, dass sie in diesem Gespräch viel mehr für mich getan als ich für sie. So sind wir dann auseinandergegangen.

Dieses Gespräch war für mich ein Schlüsselereignis. Nichts als die Wahrheit hat mir in dieser Situation geholfen. Das einfachste Mittel war und ist heute noch so wirkungsvoll. Diese Mittel habe ich immer zur Hand, und damit gelingt es mir auch heute noch sehr gut, aufkeimende Attacken sehr schnell in den Griff zu bekommen.

Möchte noch irgendjemand anzweifeln, dass ich das Craving kenne? Die Gefühle, die wie mit Baseballschlägern auf uns eindreschen, die Panik, die körperlichen Reaktionen? Ich versichere Euch, dass ich Eure Ängste bis ins kleinste Detail kenne, und ich weiss auch, wie stark ihr sein könnt.

Wir unterscheiden uns in nichts.

Damit beende ich meinen Besuch in diesem Forum und bedanke mich bei Allen für Ihre Rückmedlungen und Euer Vertrauen.

Ich wünsche allen viel Kraft!
Lutz

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon APunkt » 21. August 2016, 10:20

Hallo Lutz!

Auch Dir von meiner Seite herzlichen Dank für Dein Vertrauen, Deine Offenheit und Rückmeldungen!

freiheit hat geschrieben:Wir unterscheiden uns in nichts.

Meiner Ansicht nach unterscheiden wir uns in der Bewertung von Craving und der dahinterstehenden Abhängigkeitserkrankung. Ich will das überhaupt nicht werten, die unterschiedliche Sicht ist einfach eine unterschiedliche Sicht.
Ich habe mir meine Krankheit nicht "verdient", sondern schlicht das Pech, sie zu haben.
Insofern muss ich mir auch meinen Ausstieg nicht "verdienen", sondern das biochemische Ungleichgewicht in Ordnung bringen und, wenn das erledigt ist, meine krankheitsbedingten Gewohnheiten ändern.
Das ist nichts anderes als beispielsweise Diabetes, nur habe ich eben kein Problem mit dem raffinierten Zucker, sondern mit dem vergorenen. Ich brauche kein Insulin und muss Broteinheiten zählen, ich brauche Baclofen und muss Gramm Reinalkohol zählen.

Das wars für mich auch schon.

Insofern bewerte ich auch diese Aussage von Dir ganz anders also Du:
freiheit hat geschrieben: Es waren nur mm, die mich davon trennten, dieser Frau zu sagen, dass ich nicht in der Lage wäre, dieses Gespräch zu führen.
Ich war ein so nasser Alkoholiker in diesem Moment, wie es ein nasser Alkoholiker nur sein konnte.

Du warst einfach nur ein Mensch in einer emotional wahnsinnig anstrengenden Situation, noch dazu ohne irgendeine therapeutische Ausbildung und schlicht überfordert.
Ich sehe nicht, was das mit dem übermäßigen Konsum von Alkohol Jahre vorher zu tun haben sollte.

Wie gesagt, das ist meine Sicht auf die Dinge.

Viele Grüße, alles Gute und auch Dir weiterhin viel Kraft

A.
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon freiheit » 11. September 2016, 08:06

Hallo A.

Da bin ich jetzt doch mal inkonsequent und schreibe etwas zu Deiner Stellungnahme.

Als nasser Alkoholiker bekam ich nichts mehr auf die Reihe.

Weder das Gespräch mit der Bank, um meine Hypothekenzinsen für mein Haus neu zu verhandeln, oder die Elternabende in der Schule, die Gespräche mit meinen Vorgesetzten, Gespräche mit meiner Frau, meinen Kindern, mit meinen Kollegen, rein überhaupt nichts klappte mehr ohne Alkohol.

Natürlich musste ich zu Gesprächen und Besprechungen. Diese Situationen habe ich, wenn's irgend möglich war, vorher manipuliert bzw. präpariert oder wenn irgend möglich vermieden. Ich sass immer(!!) mit dem Rücken zum geöffneten Fenster, ich liess niemanden zu nahe an mich herankommen wegen meiner Alkoholfahne, die Unmengen von Fishermans Friend, die mir den Gaumen zerfrassen, das Fahren mit dem Auto auf Strecken, wo keine oder nur ganz selten Kontrollen waren, das heimliche Trinken mit der ewigen Angst vor Entdeckung und Enttarnung, und und und...ich könnte endlos fortfahren mit all den Dingen, die ich machen musste, um meine Alkoholsucht zu vertuschen. Die Wahrheit? Selbst be- oder angetrunken konnte ich einem prüfenden Blick kaum standhalten, berechtigte Kritik an meiner Arbeit oder meinem Verhalten war mir äusserst unangenehm, ich war zu jeder Sekunde angreifbar, weil ich jederzeit überführbar war, und so schnell es ging, habe ich nach solch einer Situation wieder zur Flasche gegriffen. Ein toller Held war ich, nicht wahr? Wahrscheinlich war diese Scham über mich selbst später auch der Grund dafür, dass ich das Anticravingmittel Campral dann nicht nehmen wollte.

Ahnst Du, wie sehr ich in der geschilderten Situation durch meine Alkoholvergangenheit zu kämpfen hatte? Mit Alkohol kannte ich mich aus, die möglichen Wege aus der Sucht hätte ich gebetsmühlenartig herunterleiern können, aber der inneren Anspannung war ich fast nicht gewachsen, deswegen auch mein Gedanke an Flucht. So hatte ich es als Trinker doch immer gemacht. Unterscheiden wir uns da? Hast Du alles im Griff ohne Mittel?

Mein Verhalten hatte ich mir andressiert, und heute sehe ich dieses Verhalten bei so eingen Mitmenschen. Es ist es mir wert, aufzuschreiben, was ich dann fühle. In mir steigt dann eine warme Selbstzufriedenheit auf, und ich kann es nicht in Worten ausdrücken, wie unendlich frei ich mich dann fühle, weil ich den ganzen Mist nicht mehr zu machen brauche. Das hat mich damals soviel Kraft gekostet, dass ich am Ende meiner Trinkerkarriere auch an Suizid gedacht hatte. Ich war ausgebrannt und leer.
Das Aufhören mit dem Alkohol war wirklich schwer, und ich denke nicht daran, es irgendwie weichzuspülen und zu verniedlichen. Es war die Hölle und die intensivste Zeit meines Lebens, und ich(!!) habe mir mein Leben verdammt nochmal zurückgeholt, mit jeder trockenen Minute, jeder trockenen Stunde, jedem trockenen Tag, jeder trockenen Woche und jedem trockenen Jahr.

Heute kann ich mich selbst gut aushalten ohne irgendwelche Mittel, und selbst meine heute eher seltenen Cravingattacken jagen mir keine Angst mehr ein.

Nüchterne Grüße sendet Lutz

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Chinaski
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon Chinaski » 11. September 2016, 11:39

Hallo Lutz,

schön das du dich nochmal meldest.

So hatte ich es als Trinker doch immer gemacht. Unterscheiden wir uns da? Hast Du alles im Griff ohne Mittel?


Lehnst du bei ähnlich schweren Erkrankungen wie zb. Krebs auch eine Medikamentöse Unterstützung ab?
Wohl kaum!

Alles gute...
Chinaski

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon timmbb » 11. September 2016, 14:19

Hallo Lutz,

Ich habe auch noch eine Frage an dich.

Ich habe jetzt seit 8 Monaten keinen Alkohol mehr getrunken, allerdings ohne größere Mühen, sprich Therapien oder Selbsthilfegruppen oder so. Habe ich alles hinter mir und bin auch froh, sowas nicht mehr über mich ergehen lassen zu müssen. Hat auch nichts gebracht. Naja ich bin halt den Baclofen Weg gegangen, und es klappt auch wirklich gut, hoffentlich bleibt es so.

Aus meiner Langzeitreha und einigen SelbsthilfeGruppen Erfahrungen, kenne ich halt einige Leute, die diesen klassischen Weg gegangen sind und weiß daher wieviel Mühen dazu gehören das durchzuziehen.
Selbstaufgabe, Kapitulation genannt, Bilanz ziehen, sich überall entschuldigen und anzurufen, erklären, dass man Alkoholkrank ist. Mehrfach wöchentlich in die Gruppe, Abstinenztraining genannt. Man kasteit sich da schon selbst.
Ich habe das nicht geschafft.
Ich fand das schon immer sehr suspekt. Ich will da jetzt auch nicht genauer drauf eingehen.

Mir ist aber in Erinnerung geblieben, dass ich schon immer den Eindruck hatte, dass diesen Jahrelangen Abstinenzlern, teilweise Jahrzentelangen Abstinenzlern, immer eine ganze Menge Respekt und Anerkennung von uns
"Abstinenzlosern" und insbesondere von Angehörigen, Therapeuten und Ärzten entgegngebracht worden ist.
Ihr habt sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal, das euch Respekt und Anerkennung einbringt.....

Du kannst Dir vielleicht vorstellen welche Frage ich an Dich habe?

Jetzt gibt es halt einfach ein Medikament, das NICHT abhängig macht, und es mal pauschal 2/3 aller Alkoholikern möglich macht ein ganz normales Leben zu führen und zwar ohne die ganzen Mühen und Entbehrungen, die Du auf Dich nehmen musstest. Nebeinbei gesagt, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Aber Baclofen vereinfacht die Sache rapide.

Vielleicht bekommen diese Menschen ja auch Anerkennung und Respekt aus ihrem sozialen Umfeld, ähnlich wie bei Olivier Ameisen, der ja in seinem Buch beschreibt, dass er versuchte seinem Umfeld deutlich zu machen, dass das am Medikament lag und nicht an seinem "starken Charakter".

Lutz, ich glaube mir ginge es an Deiner Stelle nicht anders, wenn ich all das die Jahre auf mich genommen hätte, und nun in diesem Forum lesen würde.
Begeistert wäre ich dann wahrscheinlich auch nicht von Baclofen.

Meine Frage lautet daher, hast du Bedenken, dass viele Abhängige Dir Deine großartige Leistung einfach, mit weniger Mühe nachmachen können, und Du am Ende einer unter vielen bist, weil Abstinenz, nicht die Ausnahme, sondern (hoffentlich) die Regel wird?
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon jivaro » 11. September 2016, 17:13

Lieber Lutz,

ehrlicher Respekt vor Deiner Leistung! Wer diesen Weg geht und damit erfolgreich ist: GUT!

Ich begegne seit 6 Jahren immer wieder Menschen die teils seit Jahrzehnten den klassischen Weg versuchten zu gehen und scheiterten. "Abstinenz ist eine Tortur" sagte Olivier Ameisen, auch einer der jahrelang den klassischen Weg gegangen ist.
Oft liegen Grunderkrankungen vor, die Menschen zum desaströsen Selbstbehandlungsversuch mit Alkohol greifen lassen. Menschen mit Angststörungen, mit Depressionen, posttraumatischen Belastungstörungen - haben die sich eine Suchterkrankung "verdient"? Sind vielleicht in einer Umgebung aufgewachsen in der Alkohol schon immer der "Problemlöser" war, Erfahrungen die auch Du gesammelt hast. Leid genug?!

Das plakative: Ich bin Alkoholiker stört mich sogar! Es passt für mich nicht überall als erstes hin. Es sagt ja auch niemand: "guten Tag, ich heisse Müller, habe einen Aortenklappenersatz und Bluthochdruck"!

Durch jahrelangen Konsum der Droge Alkohol werden viele neurobiologische Vorgänge verändert, diese sind mit Baclofen ganz offensichtlich reversibel. In der Behandlung sämtlicher Erkrankungen haben wir in den letzten 80 Jahren Therapien optimieren können, warum nicht in der Suchterkrankung, speziell der Alkoholstörung?

Ich bin dankbar mit Baclofen ein Medikament zu haben was eine Heilung ermöglicht. Wie ich immer sage: das geht nie ohne den festen Entschluss des Betroffenen seine Gewohnheiten zu verändern. Und natürlich muss die Verantwortung für den Konsum von Alkohol selbst übernommen werden.

Alles GUTE

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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon APunkt » 12. September 2016, 10:54

Hallo freiheit,

ich freue mich, dass Du Dich nochmal gemeldet hast!
Da Du mich direkt angesprochen hast, möchte ich auch Stellung nehmen.
Deine Entscheidung, aus der Abhängigkeit einen Weg ohne jede medizinische Hilfe zu gehen (die es so zu Deiner Zeit natürlich auch noch gar nicht gab), hat meinen Respekt. Ich würde ihn für mich nicht wählen, aber das ändert nichts an meiner Anerkennung dieser Leistung. Und, da ich das selbst mehrfach so probiert habe (um nicht zu sagen hunderte von Malen), habe ich auch eine Vorstellung davon, wie viel Mühe das kostet.

Was mich stört, ist eine Aussage wie diese:
freiheit hat geschrieben:Als nasser Alkoholiker bekam ich nichts mehr auf die Reihe.


Ich weiß nicht, ob das bei Dir tatsächlich so war oder ob diese meiner Ansicht nach übersimplifizierte Sicht nicht genau so Deine Prothese ist wie Baclofen meine.
Erstens war und bin ich nicht nur Alkoholiker. Ich bin auch eine Menge anderes, es gibt multiple Aspekte meiner Persönlichkeit, Alkoholiker ist nur einer davon.
Und zweitens, nichts auf die Reihe gekriegt? Gar nichts?

Also ich habe in der Zeit einen Schulabschluss gemacht, eine Ausbildung abgeschlossen, ein ziemlich komplexes Studium abgeschlossen, einen tollen Arbeitsplatz ergattert, dort einiges an ziemlich herausragenden Erfolgen zu verzeichnen, eine unglaublich wundervolle Frau kennengelernt und in meine Höhle geschleppt, tolle Kinder gezeugt und groß gezogen, ein nettes eigenes Häuschen bauen lassen und bezahlt, unzählige gute Gespräche, Verhandlungen, Kundenkontakte und so weiter geführt.
Nicht immer war ich dabei nüchtern, nicht immer betrunken. Nicht alles war gut, aber ganz sicher nicht alles war schlecht, sonst wäre ich heute nicht da, wo ich bin.

freiheit hat geschrieben:Hast Du alles im Griff ohne Mittel?

Nein. Und ich kenne auch wirklich niemanden, der alles im Griff hat. Ich finde es normal und richtig und wichtig, auch mal etwas nicht im Griff zu haben. Ich bin Mensch, nicht Gott.

Das sind natürlich Dinge, die kann ich nur für mich sagen, nicht für Dich und für niemanden sonst.
Aber "Ich habe nichts auf die Reihe gekriegt?"
Das sehe ich ganz anders.

Und zu dem selbst "verdienen" der Krankheit und Deiner daraus gezogenen Schlussfolgerung, man müsse sie dann auch ganz allein überwinden auch noch ein Wort.
Nein, das muss man nicht.
Würde ich durch einen selbst verschuldeten Motorrad-Unfall (selbst "verdient", weil vielleicht zu schnell gefahren, nicht den Volvo genommen oder direkt im Bett geblieben...) ein Bein verlieren, könnte ich beschließen, den Rest meines Lebens auf dem anderen Bein zu hüpfen oder mir eine Prothese anpassen lassen und Gott und vor allem den Menschen dafür danken, dass es diese Möglichkeit gibt.

Nichts anderes mache ich mit der Baclofeneinnahme auch.
Ich bin da Pragmatiker, fürchte ich.

Noch einmal und möglicherweise abschließend Dir alles Gute weiterhin, viel Kraft und Erfolg sowie
Liebe Grüße
A.
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Re: Den Absprung "verdienen"

Beitragvon Bine » 13. September 2016, 00:00

Hi A. und alle,
also ich würde die Prothese auch nehmen !
Und wer hier schreibt hat sicherlich auch schon einige Entzüge hinter sich und weiss wie schwer es ist durchzuhalten.
Und als Schwäche sehe ich das schon mal gar nicht an, es ist und bleibt eben eine SUCHT.
Jeder der es sich selber eingesteht ist schon stark genug.
Und wer den Weg mit Baclofen wählt , .......bleibt ja zum Glück jedem selber überlassen.
Wer gewinnt stellt sich am Ende raus, oder auch nicht.
Wer sagt wann man gewonnen hat ???? Ob man gewonnen hat ??? Nach einem Jahr ? Nach 5 Jahren ?
Ich habe jedenfalls schon ne ganze Menge gewonnen mit Hilfe von Baclofen ohne mich wieder so quälen zu müssen.
Und das zählt momentan für mich, alles wird besser. Jeden Tag hab ich gewonnen !
Baclofen hat viel dazu beigetragen.
Gruss Bine


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