Diskussion zum Craving-Thread

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DQA (Administrator)
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon DQA (Administrator) » 22. Februar 2015, 18:16

Hallo zusammen

Obige Beiträge wurden von Williams Erfahrungsbericht abgetrennt, weil es sich hier um ein komplett neues Thema handelt. Das Fazit wurde in einem vorläufig geschlossenen Thread gezogen. Die Diskussion zu dem Thema (Craving – Trinkwunsch etc.) kann aber nachstehend hier in diesem Thread weitergeführt werden.

DQA
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Anniebae
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon Anniebae » 26. Februar 2015, 18:08

Hallo!

Der Beitrag von Papfel zum Craving ist wirklich hilfreich! Danke dafür.

Die Betroffenen müssen verstehen, das sie ganz viel selbst beeinflussen können, aber dass die Komponenten der Abhängigkeit nicht aus Willenlosigkeit und Dummheit bestehen.
Es gibt eine Komponente, die ist, wie sie ist. Allein das zu wissen, ist eine große Hilfe.

Danke für diesen Beitrag!

Annie

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pragha
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon pragha » 13. März 2015, 16:01

Nachdem der thread mit einem vorläufig zusammenfassenden Beitrag geschlossen wurde, seien noch einige Bemerkungen von meiner Seite zum psychischen craving erlaubt:

1. Das "psychische craving" kann zwei verschiedene Ursachen haben, einmal einen konditionierten Reflex, der aus eingübten Verhaltensweisen mit Alkohol herrührt und zum anderen das, was in der englischen Literatur als cue-reactivity bezeichnet wird.
Das craving durch den konditionierten Reflex kann man vermeiden z. B. durch Veränderung der Gewohnheiten, Vermeidung von Ritualen, die früher zum Trinken geführt hat usw.
Beim craving durch cue-reactivity handelt es sich um eine starke Reaktion bei süchtigen Alkoholikern auf externe oder interne Reize. Diese Art von Craving kann man nicht willentlich beeinflussen, da es ausserhalb der Ratio abläuft und über die Botenstoffe im limbischen System, wo auch GABA einen Schwerpunkt hat, erzeugt werden. Die Frage, ob Baclofen daher nicht auch hier eine Wirksamkeit hat, erscheint mir nicht beantwortet zu sein.
So weit so schlecht; aber es gibt meiner Meinung nach Vorboten für solche Cravingsituationen, die allerdings scheinbar nichts mit Alkohol oder Craving zu tun haben.Bei mir dominieren an solchen Tagen Ungeduld, Unzufriedenheit und eine starke Ambivalenz meine Emotionen. Diese Stimmung hält einige Stunden an und tritt bei mir ca. ein Mal pro Monat auf.

2. Alkoholabhängigkeit ist in ca. 80% aller Fälle eine Sekundärerkrankung; typische Primärerkrankungen sind Angst, Depressionen oder Posttraumatische Störungen. Die hohe Rückfallquote bei Alkoholabhängigkeit hat sicher auch damit zu tun, dass die Primärerkrankungen nicht behandelt werden, sondern nur an der Alkoholerkrankung rumgedoktert wird. Damit wäre eine erfolgreiche Behandlung der Primärerkrankung eine weitere Massnahme, um "psychisches Craving" zu verhindern.

pragha

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DonQuixote
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon DonQuixote » 14. März 2015, 19:55

Hallo Pragha

Schön, Dich wieder mal zu lesen. Erlaube mir jedoch eine Frage:

Pragha hat geschrieben:Beim craving durch cue-reactivity handelt es sich um eine starke Reaktion bei süchtigen Alkoholikern auf externe oder interne Reize. Diese Art von Craving kann man nicht willentlich beeinflussen, da es ausserhalb der Ratio abläuft und über die Botenstoffe im limbischen System, wo auch GABA einen Schwerpunkt hat, erzeugt werden. Die Frage, ob Baclofen daher nicht auch hier eine Wirksamkeit hat, erscheint mir nicht beantwortet zu sein.

Wenn ich @Papfl richtig verstanden habe, dann ist „craving durch cue-reactivity“ nichts anderes als das, was @Papfl als „physisches Craving“ bezeichnet hatte, und genau da setzt doch Baclofen an.

Meint DonQuixote

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pragha
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon pragha » 15. März 2015, 13:37

Hallo Don,

du hast natürlich recht:
Cue- reactivity entspricht dem "physischen Craving" bei Papfl,
konditionierter Reflex (Feierabendbier, Ärger auflösen durch Alkohol usw.) entspricht dem "psychischen Craving " bei Papfl.
Beide erzeugen ein Craving, wobei die Unterscheidung in psychisches und physisches Craving unglücklich und, so auch in meinem Fall, missverständlich ist, da das Craving (immer?) in der Regel sowohl physische Reaktionen (Schweissbildung, erhöhte Herzfrequenz, erhöhter Speichelfluss usw.) als auch psychische Reaktionen (Agitiertheit, Trinkverlangen usw.) hervorruft.
Die Wirkweise von Baclofen ist bekannt: es erhöht die inhibitorischen Potentiale der GABA-B Transmitter und schwächt damit die exzitatorischen Potentiale. Das ist bei einem Craving durch Entzug von Alkohol leicht zu verstehen.
Was die Wirkungsweise von Baclofen für die typischen Rückfallursachen Cue- reactivity bzw. konditioniertem Reflex bedeutet, erscheint mir fraglich.
Wie auch immer. Bei konditionierten Reflexen kann jeder was für sich tun,ob Baclofen ihn dabei unterstützt oder nicht.
Bei cue-reactivity nehme ich Vorboten wahr, die für mich deutlich sind, und noch weit vor einer Cravingsituation liegen. Hier wäre mir ein feedback von anderen Betroffenen wichtig.

pragha

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Papfl
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon Papfl » 15. März 2015, 15:06

Hallo pragha!

Ich stimme Dir zu: Physisches und psychisches Craving lassen sich nicht strikt trennen. Das eine kann zum anderen führen und umgekehrt. Da gibt es sicherlich Grauzonen.

pragha hat geschrieben: Bei konditionierten Reflexen kann jeder was für sich tun,ob Baclofen ihn dabei unterstützt oder nicht.
Bei cue-reactivity nehme ich Vorboten wahr, die für mich deutlich sind, und noch weit vor einer Cravingsituation liegen.

Baclofen kann m. E. in beiden Fällen (konditionierte Reflexe und cue-reactivity) eine Unterstützung sein. Wie Du selbst ganz richtig geschrieben hast, erhöht es

pragha hat geschrieben:…die inhibitorischen Potentiale der GABA-B Transmitter und schwächt damit die exzitatorischen Potentiale.

Allgemeinverständlich übersetzt heißt das, dass Baclofen im GABA-B-System hemmend („inhibitorisch“) wirkt und folglich erregende („exzitatorische“) Elemente unterdrückt.

Ein Stück weit wird das in den beiden fMRT-Abbildungen sichtbar, die in meinem Ursprungsbeitrag enthalten sind.

Aber ist es nicht diese beruhigende, entspannende, durch Baclofen gewonnene Ruhe, die einem das Reflektieren über alteingefahrene oder erlernte Gewohnheiten („Konditionierungen“) und das Wahrnehmen, Einordnen und Deuten von eventuellen Vorboten erst möglich macht? Solange die Neuronen im Hirn verrückt spielen, sind Betroffene dazu doch kaum in der Lage.

Sicher: Wie ich mit Vorboten eines potentiellen Rückfalls umgehe bzw. meine gewohnten Verhaltensweisen ändere, sagt mir Baclofen nicht. Da kommen Psychotherapie, das Sammeln neuer, positiver Erfahrungen, Alternativstrategien etc. ins Spiel.

Aber die Voraussetzungen, solche Gedanken überhaupt erstmal aufgreifen zu können und zu reflektieren, werden ein Stück weit durch Baclofen geschaffen.

Oder anders ausgedrückt: Ich muss den physischen Part so gut es geht ausschalten, bevor ich mich dem psychischen überhaupt erst widmen kann.

Meint
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„Der Hori­zont vie­ler Men­schen ist wie ein Kreis mit Radius Null. Und das nen­nen sie dann ihren Stand­punkt."
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WilloTse
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon WilloTse » 16. März 2015, 12:08

Hi all!

pragha hat geschrieben:Cue- reactivity entspricht dem "physischen Craving" bei Papfl,
konditionierter Reflex (Feierabendbier, Ärger auflösen durch Alkohol usw.) entspricht dem "psychischen Craving " bei Papfl.

Da möchte ich ein Stück weit widersprechen.
Der konditionierte Reiz (conditioned stimulus = CS) löst eine unmittelbare auch physische Reaktion (conditioned response = CR) aus (bekanntestes Beispiel: die Pawlow'schen Hunde: Glockenton (CS) -> Speichelfluss (CR))
Insofern entspricht der CR zumindest im Sinne der klassischen Konditionierung über gelernte Zusammenhänge CS -> CR irgendwann einem physischen Craving und eben genau nicht mehr dem psychischen (das sich ja dadurch auszeichnet, dass es bewusst wahrgenommen und beeinflusst werden kann).

Die Sache mit der Konditionierung als Erklärung für Craving hat m.E. einen entscheidenden Haken: der Lernprozess mag vergleichbar sein, im Sinne eines impliziten und nicht intendierten Lernens. Kaum jemand wird Alkoholabhängigkeit explizit lernen: ich habe Stress -> ich trinke ein Bier -> ich habe weniger Stress -> Hurra.
Das Ganze findet höchstwahrscheinlich vorwiegend (nicht ausschließlich! Stichwort: soziale Lernprozesse) auf einer impliziten Ebene statt, man könnte diesen Vorgang noch als Konditionierung bezeichnen.
Es gibt aber mMn einen ganz zentralen Unterschied auf der kognitiven Ebene: wird die CR bewusst gemacht, sprich: weiß ich (z.B. weil mich jemand darauf hinweist oder über reflexive Prozesse), dass ein CSi (oder auch: ein cue) bei mir -> CRi auslöst, dann ist dieser CSi zumindest potenziell "aus dem Spiel". Dann ist er zurück auf der Ebene der Lernprozesse und kann umgelernt werden. Er kann zwar nicht aktiv wieder verlernt werden, aber durch die Bewusstwerdung ist er aktiv beeinflussbar -> psychisches Craving.

Ich habe in der privaten Diskussion im Vorfeld des Craving - Threads eine Übersicht zu meinem Verständnis der Grauzonen bzw. Übergänge erstellt. Es gibt hier meiner Ansicht nach - und ich denke, ich spreche da auch für @Papfl - keine definierbaren und festen Grenzen:

Bild

Die klassische Suchttherapie begegnet der konditionierten Reaktion (CR) (nicht ganz grundlos) auf genau dieser Ebene: Muster durchbrechen. Die "Triggerkneipe" meiden. Das sind ganz bewusste (bewusst gemachte, "achtsame") Prozesse, die diesseits des physischen Craving ablaufen und auch der cue reactivity, zumindest ihrer Folge, entgegenwirken.

Das "physische Craving" verstehe ich als willentlich völlig unkontrollierbaren Bereich, der, ähnlich der Pupillenreaktion bei Lichteinfall, weder bewusst wahrgenommen noch willentlich beeinflussbar ist.
Physisches Alkoholcraving resultiert aus wie immer gearteten neurochemischen Mangelerscheinungen, vielleicht grob vergleichbar dem Hunger, der ein systembedrohendes Ungleichgewicht in der Nährstoffzufuhr anzeigt. Situativ beherrschbar, dauerhaft abstellbar aber nicht.

Und hier setzt tatsächlich Baclofen an: der durch einen nicht willentlich steuerbaren Regelkreis angezeigte Mangel an Alkohol im System wird aufgehoben.
Danach ist es möglich, die CS zu identifizieren und gegen die CR anzugehen, hier also am psychischen Craving zu arbeiten.
Auch dies ist dem Hunger nicht unähnlich: gehe ich, satt, wie ich bin, durch die Feinkostabteilung, dann werden bestimmte Lebensmittel trotz bereits erfolgter vollständiger Abdeckung der erforderlichen Nährstoffe, eine Reaktion auslösen, die mit der Notwendigkwit der Nährstofaufnahme nichts mehr zu tun haben.
Da liegt meiner Ansicht nach die wahrnehmbare Wirkung von Baclofen im Bereich des psychischen Craving: es wird kein unmittelbares physisches Craving mehr ausgelöst, es bleibt dem Patienten Zeit, "Nein" zu sagen, eine Entscheidung zu treffen.

Aber eben so, wie ein Steak und ein Salat den Hunger (im Sinne eines homöostatischen Gleichgewichtes der verfügbaren Nährstoffe) für die nächsten Stunden gestillt haben und ich trotzdem der "Lust" auf eine Schachtel Pralinen nachgeben kann, schaltet Baclofen die "Lust" auf die "Pralinen" nicht aus.

Obwohl der Post jetzt recht lang wird - Ihr kennt mich ja - möchte ich darauf noch eingehen:

pragha hat geschrieben:Bei cue-reactivity nehme ich Vorboten wahr, die für mich deutlich sind, und noch weit vor einer Cravingsituation liegen. Hier wäre mir ein feedback von anderen Betroffenen wichtig.

Ja, ich auch.
In der Eigenwahrnehmung: übermäßige Aktivität, Getriebensein, im Tagesverlauf auffällig stark wechselnde Stimmungen
In der Fremdwahrnehmung: der Eindruck, ich hätte bereits getrunken, die Wahrnehmung meiner "besoffenen Persönlichkeit", obwohl ich definitv noch keinen Alkohol getrunken habe

LG
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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon DonQuixote » 16. März 2015, 23:48

Hi Pragha

Ich lege dann mal los:

Pragha hat geschrieben:[…] wobei die Unterscheidung in psychisches und physisches Craving unglücklich und, so auch in meinem Fall, missverständlich ist.

Ja, das stimmt. Diese Unterscheidung war bei uns im Forum in der Tat lange „unglücklich“. Nebst der rein physischen Komponente „etablierten“ sich bei uns nach und nach Begrifflichkeiten wie z.B:

  • Trinkwunsch
  • Trinkgewohnheit
  • Trinkzwang
  • Suchterinnerung (psychische)
  • Persönliche Trink-Rituale
  • usw. usw.
Mit unserem Fokus-Thread bezweckten wir, physische und psychische Komponenten der Sucht so gut wie möglich von anderen Dingen zu trennen. Ich denke schon, dass das geht, obwohl immer mal wieder gesagt wird, dass „alles miteinander vermengt“ sei. Die US-Amerikanische Gesellschaft für Suchtmedizin (ASAM) beschreibt die „Sucht“ jedenfalls so:

ASAM hat geschrieben:Sucht ist eine grundlegende und chronische Hirn-Erkrankung der Belohnungs-, Motivations-, Gedächtnis- und verwandter Systeme.
(Quelle …).

Soweit also so gut, oder eben so schlecht. Baclofen hilft jedenfalls, diese „chronische Hirn-Erkrankung der Belohnungs-, Motivations-, Gedächtnis- und verwandter Systeme“ auf einer (Hirn-) physiologischen Ebene in Schach zu halten. Um den Rest müssen sich die Patienten und Therapeuten dann selbst kümmern …

DonQuixote

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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon WilloTse » 17. März 2015, 11:12

Tach zusammen,

zwei Dinge gehen mir noch durch den Kopf:

DonQuixote hat geschrieben:Mit unserem Fokus-Thread bezweckten wir, physische und psychische Komponenten der Sucht so gut wie möglich von anderen Dingen zu trennen. Ich denke schon, dass das geht, obwohl immer mal wieder gesagt wird, dass „alles miteinander vermengt“ sei

Diese Trennung Physis/Psyche ist zwangsläufig ein Kunstprodukt. Es gibt zwar Physis ohne Psyche, z.B. kann ich keinen Selbstmord begehen, indem ich meinem Herzen befehle, mit dem Schlagen aufzuhören. Über bestimmte Biofeedback- bzw. Meditationsübungen kann ich allerdings im gewissen Rahmen aktiv Einfluss auf meine Herzfrequenz nehmen.
Es gibt aber keine Psyche ohne Physis (zumindest, so lange wir im nichtreligiösen Rahmen bleiben... [pardon] ).
Alles, was ich denke, fühle, hoffe, empfinde, erlebe, wahrnehme...ist irgendwie irgendwo auch physisch darstellbar. Wenn ich mich niedergeschlagen fühle, dann fühle ich mich niedergeschlagen und fühle nicht, welches neuronale Netzwerk in meinem Gehirn gerade wie verschaltet ist.
Es IST aber auf eine bestimmte Art und Weise bei Niedergeschlagenheit verschaltet.
Insofern gibt es streng genommen kein rein psychisches Craving.

Denoch finde ich diese zugegebenermaßen künstliche Trennung sinnvoll, um damit zu arbeiten: das physische Craving entspricht dabei gewissermaßen dem Teil meines Herz-Kreislauf-Systems, den ich bei aller Willensanstrengung nicht mehr beeinflussen kann und den ich auch nicht unbedingt wahrnehme. (Wie es ein Prof. mal formulierte: "Egal, wie sehr ich es probiere, über den Dehnungszustand meiner Venen kann ich beim besten Willen keine Auskunft geben!").

Das psychische Craving entspricht dann in diesem Bild dem Teil des Herz-Kreislauf-Systems, den ich über bestimmte Techniken/Diäten/Lebensweisen... beeinflussen kann.
Und das geht schon ineinander über: senke ich über Meditation und Ausdauersport aktiv meinen Blutdruck und meine Herzfrequenz, dann wird sich auch der Dehnungszustand meiner Venen verändern. Egal, ob ich davon was merke oder nicht.

Damit bin ich bei Teil zwei dessen, was mir nicht aus dem Schädel geht:
pragha hat geschrieben:Bei cue-reactivity nehme ich Vorboten wahr, die für mich deutlich sind, und noch weit vor einer Cravingsituation liegen.

DAS genau weiß ich nicht.
Ich nehme diese Situation nicht bewusst als Craving wahr, aber ist es deswegen keins?
Ohne den Beweis antreten zu können würde es mich nicht wundern, wenn in diesem Zustand die "Vorboten" im fMRT nicht von Craving zu unterscheiden wären.
Etwas, das von mir unbeeinflussbar im ZNS abläuft, mein Kopf gewissermaßen schon an Alkoholzufuhr "denkt", bevor ich etwas davon mitkriege.
Wie gesagt, beweisen kann ich das nicht, (vielleicht sollten wir doch mal unser Taschengeld zusammenlegen und uns ein fMRT kaufen), aber wundern würde es mich nicht, wenn genau das das "physische" Craving wäre.

LG
Willo

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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon WilloTse » 17. März 2015, 11:41

Nachtrag:

WilloTse hat geschrieben:das physische Craving entspricht dabei gewissermaßen dem Teil (...), den ich bei aller Willensanstrengung nicht mehr beeinflussen kann

"Nicht mehr beeinflussen"...
Das Hirn ist schon eine wundersame Kiste und offenbar eine Erfindung von Toyota, nix ist unmöööglich: [smile]

Abstract hat geschrieben:Neurofeedback using real-time fmri in patients with alcohol use disorder

Several previous studies have shown that real-time neurofeedback can be used to willfully regulate neuronal activity in specific brain-regions. The aim of the study was to find out whether patients with alcohol dependency would be able to learn how to regulate their neuronal activity in dependency-associated areas. In addition, neurofeedback-related variations to craving for alcohol are assessed.

11 patients with alcohol dependency and 14 healthy participants were investigated. Neutral and alcohol-associated pictures were presented during functional MRI measurements. Alcohol-associated BOLD-responses in the frontal cortex (anterior cingulate cortex, dorsolateral prefrontal cortex, insula) were used as a region of interest (ROI). During the neurofeedback sessions, participants were instructed to down regulate their neuronal activity in the specific ROI during the presentation of alcohol-associated pictures.

The results show that the patients were able to regulate their neuronal activities in areas related to dependency (p=0,048). After the neurofeedback-sessions, the individual craving (valued on the basis of the obsessive compulsive drinking scale) was slightly reduced in comparison to before the sessions (p=0,068).

It seems feasible for patients with alcohol dependency to down-regulate their neuronal activity using rtfMRI. In addition, there is some evidence that craving can be influenced by this technique. However, so far, there were great differences within the group of patients.

von hier

LG nochmal
Willo

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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon pragha » 17. März 2015, 21:09

Craving,in welcher Form auch immer,ist die wesentliche Ursache für Rückfälle.
Hier gibt es 2 verschiedene Mechanismen, wie immer wir die benennen: psychisches und physisches Craving oder konditionierten Reflex und cue-reactivity.
Irgendwie hilft hier Baclofen, dem Craving zu widerstehen.
Das Spannende in diesem Forum sind die Vielzahl möglicher Erfahrungen zu dem Thema: Alkohol, Abstinenz und Rückfall.
Zum Thema Craving durch Cue-reactivity, d.h. ein scheinbar spontan auftretendes craving, das nicht rational fassbar ist und sich der rationalen Kontrolle entzieht, gibt es bisher zwei Aussagen in den letzten Beiträgen:
von Willo
Ja, ich auch.
In der Eigenwahrnehmung: übermäßige Aktivität, Getriebensein, im Tagesverlauf auffällig stark wechselnde Stimmungen
In der Fremdwahrnehmung: der Eindruck, ich hätte bereits getrunken, die Wahrnehmung meiner "besoffenen Persönlichkeit", obwohl ich definitv noch keinen Alkohol getrunken habe

von mir
aber es gibt meiner Meinung nach Vorboten für solche Cravingsituationen, die allerdings scheinbar nichts mit Alkohol oder Craving zu tun haben.Bei mir dominieren an solchen Tagen Ungeduld, Unzufriedenheit und eine starke Ambivalenz meine Emotionen. Diese Stimmung hält einige Stunden an und tritt bei mir ca. ein Mal pro Monat auf.

Das liest sich von den Symptomen ziemlich ähnlich.
Wenn sich das verallgemeinern lässt, wäre das ein guter Ansatz, um mit dem vermeintlich übermächtigen limbischen System, das einen mit dem Craving in den Rückfall treibt, umzugehen.
pragha

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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon Dr_Domuch » 18. März 2015, 09:27

Das ist ein sehr, sehr wichtiger Baustein, ich würde gern mehr daraus machen!
Wer ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie Willo und Pragha sie beschreiben, den möchte ich bitten, sie hier zu schildern.

pragha hat geschrieben:ein scheinbar spontan auftretendes craving, das nicht rational fassbar ist und sich der rationalen Kontrolle entzieht, gibt es bisher zwei Aussagen in den letzten Beiträgen:
von Willo

Ja, ich auch.
In der Eigenwahrnehmung: übermäßige Aktivität, Getriebensein, im Tagesverlauf auffällig stark wechselnde Stimmungen
In der Fremdwahrnehmung: der Eindruck, ich hätte bereits getrunken, die Wahrnehmung meiner "besoffenen Persönlichkeit", obwohl ich definitv noch keinen Alkohol getrunken habe


von mir

aber es gibt meiner Meinung nach Vorboten für solche Cravingsituationen, die allerdings scheinbar nichts mit Alkohol oder Craving zu tun haben.Bei mir dominieren an solchen Tagen Ungeduld, Unzufriedenheit und eine starke Ambivalenz meine Emotionen. Diese Stimmung hält einige Stunden an und tritt bei mir ca. ein Mal pro Monat auf.


Das liest sich von den Symptomen ziemlich ähnlich.
Wenn sich das verallgemeinern lässt, wäre das ein guter Ansatz, um mit dem vermeintlich übermächtigen limbischen System, das einen mit dem Craving in den Rückfall treibt, umzugehen.


Willo und Pragha beschreiben die Selbstwahrnehmung eher negativ: Getriebenheit, innere Unruhe, starke emotionale Schwankungen, Ungeduld.
Ich habe solche "Vorboten" eines Rückfalls vermehrt festgestellt, allerdings waren sie in der Selbstbeschreibung eher positiv belegt und wurden insgesamt als hohe Aktiviertheit beschrieben. Um so mehr kam der folgende Rückfall für die Betrofenen selbst aus heiterem Himmel. "Ich verstehe es selbst nicht, mir ging es gerade so gut!"

Das soziale Umfeld hatte diese Sache allerdings anders gesehen:
WilloTse hat geschrieben:In der Fremdwahrnehmung: der Eindruck, ich hätte bereits getrunken, die Wahrnehmung meiner "besoffenen Persönlichkeit", obwohl ich definitv noch keinen Alkohol getrunken habe

Das habe ich sehr häufig erlebt, die Angehörigen sahen die Lawine rollen, bevor der Betroffene selbst es wahrgenommen hatte.
Ich habe dann versucht, gemeinsam mit Angehörigen und Betroffenen ein Trainingsprogramm zu entwickeln, um diese, wie Du es nennst "Vorboten", zur Rückfallprophylaxe zu nutzen.
Das ist mir leider ziemlich um die Ohren geflogen. Das Problem war, dass die Abhängigen auf die Mahnungen der Angehörigen, die die Lawine kommen sahen, extrem ablehnend reagierten, es "ging ihnen ja gerade so gut". Der folgende Rückfall wurde dann eher der "Einmischung der Angehörigen" und dem emotionalen Stress zugeschrieben, den die Warnung des sozialen Umfeldes angeblich ausgelöst habe.
"Familien-Stasi" war eine der Bezeichnungen, die in diesem Zusammenhang gefallen waren.
Keine meiner Sternstunden.

Trotzdem halte ich das für ein wichtiges Konzept, wenn Ihr hier eigene Erfahrungen sammeln würdet, würde mich das sehr freuen. Vielleicht könnte man das Programm ja nochmal aufleben lassen.

Danke Annie für den Hinweis auf diesen Beitrag!

LGDD

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Re: Diskussion zum Craving-Thread

Beitragvon pragha » 18. März 2015, 18:38

@ Dr_Domuch
Zitate aus deinem Beitrag:
Willo und Pragha beschreiben die Selbstwahrnehmung eher negativ: Getriebenheit, innere Unruhe, starke emotionale Schwankungen, Ungeduld.
Ich habe solche "Vorboten" eines Rückfalls vermehrt festgestellt, allerdings waren sie in der Selbstbeschreibung eher positiv belegt und wurden insgesamt als hohe Aktiviertheit beschrieben. Um so mehr kam der folgende Rückfall für die Betrofenen selbst aus heiterem Himmel. "Ich verstehe es selbst nicht, mir ging es gerade so gut!"

Wenn ich mein Leben bewerte, sehe ich das recht positiv. Diese einzelnen Tage. die ich beschrieben habe, sind in der Empfindung der Unzufriedenheit, Agitiertheit und Ambivalenz (da sind noch einige weitere Empfindungen für die es keine, mir bekannten ,Worte gibt) unmotiviert und ohne Bezug zu meinem insgesamt positiven Erleben.
Ich denke, das Problem bei vielen Betroffenen ist die mangelnde Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Das ist keine Abwertung, aber Selbstwahrnehmung ist nicht einfach zu erlernen. Ich halte es aber für ganz wichtig im Kontext einer nicht von Craving bestimmten Lebensweise.
pragha


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