Fachartikel (2013): Versuchte Selbst-Vergiftung mit Baclofen

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DonQuixote
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Fachartikel (2013): Versuchte Selbst-Vergiftung mit Baclofen

Beitragvon DonQuixote » 3. Februar 2015, 21:34

Seid gegrüßt

Schon etwas älter (Nov. 2013) aber hier noch nie besprochen ist folgender Fachartikel (englischer Volltext siehe Link):

(Selbst verabreichte massive Überdosierung mit Baclofen von alkoholabhängigen Patienten bei gleichzeitigem Vorhandensein psychiatrischer Begleiterkrankungen. Eine Fall-Serie im Umfeld einer hospitalen Notfall-Station.)

Zusammenfassung (Abstract) hat geschrieben:
Ziele: Das Ziel dieser Studie war die Beschreibung der Behandlung von alkoholanhängigen Patienten mit gleichzeitigem Vorhandensein psychiatrischer Begleiterkrankungen, welche nach selbst verabreichter massiver Überdosierung von Baclofen in ein hospitale Notfall-Station eingeliefert wurden.
Methoden: Eine nachträgliche Auswertung von Patientenakten über einen Zeitraum von zwölf Monaten
ab Januar 2012.
Resultate: Es wurden 12 solche Patienten identifiziert, der Altersdurchschnitt lag bei 39,5 Jahren. Die angenommen mittlere eingenommene Menge betrug 340 mg (Bandbreite 140 – 800 mg). Drei Patienten, welche gleichzeitig Benzodiazepine zu sich genommen hatten, wiesen schwere Bewusstseinsstörungen auf (Glasgow Coma Scale <8) [...]

Zwischenbemerkung DonQuixote: Bei 8 oder weniger Punkten auf der Glasgow Coma Scale ist von einer schweren Funktionsstörung des Gehirns auszugehen und es besteht die Gefahr von lebensbedrohlichen Atmungsstörungen, so dass bei einem GCS kleiner 9 eine Sicherung der Atemwege durch endotracheale Intubation erwogen werden muss. Quelle (Wikipedia) ist oben verlinkt. Doch nun weiter mit der Zusammenfassung (Abstract):

Zusammenfassung (Abstract) hat geschrieben:
[…] so dass zur Abwehr Flumazenil gegeben wurde. Bei allen Patienten wurde der Blutalkoholgehalt gemessen, bei drei Patienten war er positiv (1,44 bis 4,7 ‰ ). Bei zwei Patienten wurde eine Magenspülung durchgeführt. Alle Patienten sind vollständig genesen und wurden nach einer psychiatrischen Behandlungs-Sitzung aus der Notfall-Aufnahme oder der Intensiv-Station entlassen.
Schlussfolgerung: Eine akute Baclofen-Überdosierung wirkt sich auf das Zentralnervensystem aus. Die Behandlung erfolgt in erster Linie auf symptomatischer Ebene. Besondere Vorsicht bei der Verschreibung von Baclofen muss bei gleichzeitiger Verschreibung von anderen auf das zentrale Nervensystem wirkenden Medikamenten sowie bei bereits vorausgegangenen Selbstmordversuchen bestehen.

Alles klar soweit. Doch was bedeutet „Intoxikation“, oder etwas abgeschwächt „Überdosierung“? Kann uns das auch passieren, wenn wir z.B. mal mit dem Tageskalender durcheinander kommen und eine Dosis zu viel einnehmen oder zu schnell hoch dosieren? Wohl kaum. Um da mal ein Bild von solchen Situationen zu malen, muss man bedenken, dass die Untersuchung in Frankreich stattgefunden hat, und dort sind nur Tabletten von 10 mg erhältlich. Um also zu einer wie oben beschriebenen mittleren Vergiftungs-Dosis von 340 mg zu gelangen, muss man sich schon 34 solche Tabletten auf's Mal einwerfen, und das zeugt schon von einem gewissen Willen, sich richtig richtig weh tun zu wollen.

Dies ist übrigens nicht die erste Untersuchung dieser Art. Zu einem ganz ähnlichen Befund wie oben beschrieben kam bereits im März 2012 ein Bericht (ab Seite 18) des französischen „Comité technique de Pharmacovigilance“. Dort wurde von sieben solchen Suizid-Vorfällen berichtet, wobei auch hier bereits vorausgegangene Selbstmordversuche und gleichzeitige Einnahme anderer bewusstseinsverändernder Medikamente ausnahmslos eine große Rolle spielten.

Mit einer solchen massiven Überdosierung in der Notaufnahme zu landen ist bestimmt nicht lustig, für keinen der Beteiligten (Patienten, Angehörige, behandelnde Ärzte/Therapeuten, Personal der Notaufnahme etc.). Klar, der ausnahmslos relativ gutmütige Verlauf solcher (Selbst-)Vergiftungen ist ermutigend. Fakt scheint aber auch, dass die Überlebensraten bei Medikamentenvergiftungen nach Einlieferung in die Intensivstation bei ca. 99% liegen. Was wäre also geschehen, wenn diese Personen mit akuter Baclofen-Vergiftung nicht in eine Notaufnahme eingeliefert worden wären? Eigentlich war ich immer der Meinung und bin es jetzt noch, dass die Toxizität von Baclofen eher gering ist. Doch belegen kann ich es nicht, vielleicht hilft mir ja jemand dabei.

DonQuixote

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GoldenTulip
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Re: Fachartikel (2013): Versuchte Selbst-Vergiftung mit Baclofen

Beitragvon GoldenTulip » 3. Februar 2015, 22:08

Hi DQ,

Belege sind nicht so mein Ding, das können andere besser hier.
Simpel gesagt, macht immer die Dosis und die Absicht der Nutzung das Gift. Hochdosiert stumpf abzusetzen ist gefährlich. Von Null in kurzer Zeit auf 200mg zu gehen, ebenfalls. Die geringe Mortalitätsrate macht Baclofen für suizidale Personen wenig attraktiv. Eine Art "goldener Schuss" ist mit Bac höchst unwahrscheinlich.
Die psychischen Auswirkungen - insbesondere wenn multitoxisch kombiniert wird - sind aber dennoch für meine Begriffe eine echte Größe. Baclofen ist nicht ungefährlich, sondern bei bestimmungsgemäßem Gebrauch ein Mittel, das größeren Schaden zu verhindern vermag.
Wasser ist ein Lebenselexier - Waterboarding eher nicht;
sorry, dass ich so drastisch rede, aber ich halte Baclofen für so wirksam, dass ich dem keinen Bonbonfaktor zusprechen mag, Recht hast Du, dass auch hochdosiertes Baclofen für sich genommen kein extremes Risiko darstellt und als Alternative zum Säufertod durchaus taugt *cgs*

Lieben Gruß
Conny
Siegreiche Krieger siegen bevor sie in den Krieg ziehen, während Verlierer erst in den Krieg ziehen und dann versuchen, zu gewinnen. Sunzi.
Wenn Du nichts tun kannst, tu, was Du tun kannst. Conny.

In respektvollem Gedenken an Aaron Swartz http://de.wikipedia.org/wiki/Aaron_Swartz

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Re: Fachartikel (2013): Versuchte Selbst-Vergiftung mit Baclofen

Beitragvon WilloTse » 4. Februar 2015, 07:48

Moin DQ & all!

DonQuixote hat geschrieben:Eigentlich war ich immer der Meinung und bin es jetzt noch, dass die Toxizität von Baclofen eher gering ist. Doch belegen kann ich es nicht, vielleicht hilft mir ja jemand dabei.


Die Toxizität eines Stoffes wird i.d.R. mit der "LD50" angegeben.
Dies kennzeichnet die letale Dosis, bei der 50% der Versuchstiere, denen diese Dosis verabreicht wurde, sterben.
Ausführlicher: Wikipedia.

Für Baclofen allgemein bekannt ist die
drugbank hat geschrieben:LD50=45 mg/kg (male mice, IV); LD50=78 mg/kg (male rat, IV)
Quelle

Das bedeutet für den gegenderten Durchschnittsdeutschen mit 75 kg Körpergewicht: zwischen 3.375 mg (Vergleichstier: Mäuse) und 5.850 mg (Vergleichstier: Ratten) Einmaldosis liegt der Bereich, in dem 50% der Patienten versterben könnten.

Das electronic Medicines Compendium (eMC) schreibt:
eMC hat geschrieben:In one case, an adult patient showed signs of severe overdosing (coma) after injection of a single dose of 25microgram of baclofen (Baclofen). Conversely, daily dosages of 4000microgram have been required and tolerated in isolated cases (German studies). The lowest lethal dose reported in German studies is 4000microgram [Anm. Willo: = 4mg, intrathekal], and the highest recorded dose survived without sequelae is 20000microgram of baclofen (Baclofen).
Quelle, Hervorhebung von mir

Es gibt eine andere Quelle für orale Einnahme:

POISINDEX, zitiert nach Veterinary Medicine hat geschrieben:The oral LD50 in rats and mice is high (145 and 200 mg/kg, respectively)
Quelle

Daraus ergäben sich also (75 kg Mensch): 10.875 mg (Vergleichstier Mäuse) bzw. 15.000 mg (Vergleichstier Ratten), bei denen die Hälfte der Patienten stirbt.

Interessant ist, dass Hunde möglicherweise empfindlicher auf Baclofen reagieren:
Veterinary Medicine hat geschrieben: There are no established lethal doses in dogs, but per the ASPCA APCC database, deaths in dogs have occurred at doses estimated to be between 8 and 16 mg/kg.
Quelle

Aber Achtung: dabei handelt es sich nicht um die LD50 für Hunde, sondern in diesem Bereich sind vereinzelt Tiertode aufgetreten.

Wenn wir vorsichtshalber diesen (unteren) Wert auch für Menschen annehmen, besteht (wieder bezogen auf 75kg Körpergewicht) ab etwa 600 mg Einmaldosis (= 24 Tabletten á 25mg) ein erhöhtes Sterberisiko.

Ein weiterer Teil der zitierten Untersuchung aus der "Veterinary Medicine" ist interessant bezüglich der Halbwertzeit:
Hecht, D.V.; Allenspach, K.: Presumptive baclofen intoxication in a dog. J. Vet. Emerg. Crit. Care 8:49-54; 1998., hier zitiert aus Veterinary Medicine: hat geschrieben:The half-life of baclofen in people is two and a half to four hours, but in overdose situations the half-life has been reported to increase to as much as 34 hours because of saturation of metabolic and elimination mechanisms.

Quelle, Hervorhebung von mir

Sollte man also in eine Überdosierung hineingeraten sein, ist das klassische "Ausschleichen" aufgrund der dramatisch erhöhten Halbwertzeit möglicherweise keine gute Idee. Bei Verdacht auf Überdosierung bitte daher unbedingt sofort einen Arzt bzw. ein Krankenhaus aufsuchen!!!

LG
Willo

Alle Angaben nach bestem Wissen, aber ohne Gewähr :wink:

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DonQuixote
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Re: Fachartikel (2013): Versuchte Selbst-Vergiftung mit Baclofen

Beitragvon DonQuixote » 5. Februar 2015, 19:35

Seid gegrüsst

Der Vollständigkeit halber hier noch ein weiteres Fundstück von @Cereal:

Cereal hat geschrieben:
Using MEDLINE, we found only 2 reports4,5 published in the past 25 years on the pharmacokinetics in baclofen overdose. In the first report,4 baclofen pharmacokinetics were determined in a patient after an intentional overdose of 1230 mg; in this case, the elimination half-life was 4.58 hours. In the second report,5 a patient ingested more than 2 g of the drug; in this case, the elimination half-life was 8.6 hours. The authors of the second report did not find evidence of saturable kinetics in baclofen overdose.

Interestingly, with chronic oral dosing, baclofen has an elimination half-life of about 6.5 hours.6 On the basis of this information, if we assume that the patient was found after most of the drug had been absorbed and we extrapolate back to the time of ingestion (and assume that maximum plasma concentrations occur about 2 hours after ingestion),1 we can estimate that the peak serum level ranged from 5.2 to 18.2 μg/mL (a standard first-order elimination equation was used for this calculation: CO = C x e−kT). If this estimation is accurate, the patient had a significantly higher serum level than has been usually reported in cases of baclofen overdose, though the pharmacokinetics of this drug in higher doses than those described is not known.3
(von hier …)

DonQuixote


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