Wohl kaum eine "Weisheit" hat sich so tief in unser Hirn gebrannt wie diese: Einmal Alki - immer Alki!
Alkoholiker ist man ein Leben lang, Heilung ausgeschlossen, Rückkehr zu normalem, unauffälligem Alkoholkonsum unmöglich.
Die Baclofentherapie ist nun schon im Ursprung durch "Patient 1" Olivier Ameisen NICHT zwingend an der Abstinenz ausgerichtet, eine Rückkehr zu normalem Trinkverhalten wird nicht ausgeschlossen. Darüber sind hier im Forum und im Real Life immer wieder zum Teil hitzige Diskussionen entbrannt.
Im Umfeld der aktuellen ARTE - Doku taucht die Frage wieder vermehrt auf: gibt es Heilung von der Alkoholabhängigkeit? Darf man das überhaupt denken?
Im o.g. Faden wirft das Neumitglied @herman die klassischen Thesen in den Raum:
herman hat geschrieben:Für jeden der ernsthaft trocken werden will ist es keine alternative! (...)
Habe regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besucht, habe in dieser Zeit keinen getroffen der noch kontroliert trinken konnte.
Es ist für mich unverständlich wie Suchtmediziener von einer Heilung bei Alkoholsucht reden können.
(...)
Alkoholsucht ist unheilbar, man kann sie nur selber zum Stillstand bekommen.
Auch @Papfl meint...
Papfl hat geschrieben:...dass klassischen 10.2-Alkoholikern, die zudem noch über eine hohe biologische Abhängigkeit verfügen, letztlich nur die Abstinenz bleibt.
Mir hat auch nicht gefallen, dass zeitweise in der Doku der Eindruck erweckt wurde, mit Baclofen könnten Alkoholabhängige "kontrolliert Trinken" (z.B. als Olivier Ameisen sich demonstrativ sein Rotweinglas füllte).
(...)
Denjenigen, die partout keine Abstinenz hinbekommen (aus welchen Gründen auch immer), kann es wenigstens ein Stück weit zur Konsumreduktion resp. ein paar alkfreien Tagen zwischendurch verhelfen, was aus einer gesundheitlichen Perspektive heraus betrachtet ja durchaus auch wünschenswert ist. Das fällt für mich aber nicht unter "kontrolliertes Trinken".
Ich möchte dem ein paar nüchterne Zahlen entgegenhalten und bitte darum, sie ggf. zu widerlegen:
Deutsches Ärzteblatt 3/2014 hat geschrieben:Dass Tabakrauchende sich von ihrer Sucht selbstständig lösen können, ist unbestritten. Doch was geschieht mit alkohol- oder substanzabhängigen Menschen, die sich keine professionelle Hilfe suchen oder eine Behandlung abbrechen? Studien zufolge kommen nur etwa 15 Prozent der Betroffenen mit dem Suchthilfesystem in einen längerfristigen Kontakt. Diesem Thema widmete sich im Dezember 2013 das Suchtforum im Zentrum für Psychiatrie Emmendingen.
(...)
Noch 2008 kommt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes hierzulande zum Schluss: „Unbehandelt führt die Alkoholkrankheit meist zum Tod.“ Stimmen diese Annahmen, fragte Dr. phil. Gallus Bischof, Psychologe und Psychotherapeut an der Universität Lübeck, in seinem Hauptvortrag und klärte zunächst die Begriffe: „Spontaneous remission“ impliziere fälschlicherweise, dass eine solche Heilung ohne eigene Aktivität möglich sei. Für zutreffender hält Bischof „self-regulation“ oder „self-change“, bei seiner Arbeit hat er sich für „Remission ohne formelle Hilfe“ entschieden.
Dabei bedeutet Remission nicht Abstinenz. Nur etwa 15 Prozent der „Selbstremittierer“ entscheiden sich für eine dauerhafte Abstinenz, der Rest finde zu einem „klinisch unauffälligen Konsum“. Weist jemand ohne professionelle Hilfe zwölf Monate lang nicht mehr die Kriterien einer Abhängigkeit auf, gilt er oder sie als „selbstremittiert“.
(...)
Neueren Studien zufolge (Rumpf HJ 2000, Sobell LC et al. 2006, Dawson D et al. 2005) liegt die Selbstheilungsrate bei Alkoholabhängigkeit in Deutschland bei 53 Prozent, in Kanada und den USA bei 78 respektive 72 Prozent. (...) Bischofs Fazit: Selbstheilung ist die Regel. Und mit 95 Prozent nach 24 Monaten ist sie überaus stabil.
(...)
Sind Betroffene, die sich selbst kurieren, weniger schwer erkrankt, oder weisen sie eine geringere Komorbidität auf? Bischof verneint beide Fragen. Seiner Untersuchung zufolge (2000) waren durch Medien rekrutierte „Selbstremittierer“ schwerer betroffen als Patienten in stationärer Behandlung. Und bisher gebe es keinen Hinweis auf eine geringere psychiatrische Komorbidität in der Gruppe der selbstständig Remittierten.
(...)
Bischof plädiert für weitere Entstigmatisierung, „proaktives“ Zugehen auf Betroffene, „Zieloffenheit“ der Behandlung, zum Beispiel hinsichtlich „kontrollierten Trinkens“, sowie Stärkung psychosozialer Ressourcen, etwa durch das Community Reinforcement And Family Training (CRAFT).
vollständiger Artikel, Hervorhebungen von mir
Geht man in Deutschland von einer Selbstheilungsrate von nur 50% aus, von denen dann 85% klinisch unauffällig weiter konsumieren, gelingt demnach 42,5% ALLER Alkoholabhängigen in Deutschland eine Rückkehr zu eben diesem klinisch unauffälligen Konsum. Ohne Baclofen.
Und das übliche Argument, diejenigen, denen das gelingt, seien ja "gar nicht richtig abhängig gewesen", entkräftet der Artikel im letzen Absatz ebenfalls.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt übrigens auch ein Artikel aus 2005 in der "Addiction", den ich hier bereits einmal kommentiert habe.
Ich habe den Kommentar im März '14 mit dem Satz geschlossen:
WilloTse hat geschrieben:Insgesamt finde ich diese Beiträge sowie den ursprünglichen Artikel aus der "Addiction" absolut lesens- und bedenkenswert und frage mich, wann die AA & Co(nsorten) mal ihre Position mit Zahlen untermauern.
Ich möchte diese Bitte, nein, diese Forderung an dieser Stelle wiederholen: Wer sagt, "Einmal Alki - immer Alki!", möchte diese Position bitte nicht mehr einfach behaupten.
Sondern belegen.
LG
Willo